AW: Der unpolitische Mensch
Aus dem klassischen Bildungsbürgertum, vor allem aber aus Kreisen der "kritischen Intellektuellen" ist das Idealbild des politisch denkenden Menschen entsprungen. "politisch" zu denken, "sich einzumischen", "eine eigene politische Meinung haben" galt seit dem als Tugend und Ritterschlag für intellektuellen Anspruch.
Hat sich da etwas geändert? Darf man heute auch unpolitisch sein und trotzdem als schlauer Kopf gelten? Darf man sich in anderen Bereichen engagieren und dafür die Politik außen vorlassen ohne als verantwortungslos zu gelten?
Oder gelten noch die alten Ideale - womöglich, weil sowieso "alles politisch ist"?
Politisches Denken meint heute, dem mainstream entsprechend zu denken - und vor allem zu handeln. Z.B. bei Wahlen.
Politisch Denken bedeutet heute, sich der etablierten Politikerclique anzupassen.
Alles, was demgegenüber kritisch geäußert wird, ist nicht etwa politisch, sondern entweder "links" oder "rechts".
Unpolitisch kann man eigentlich nur sein, wenn es einem unverschämt gut geht. Aber das versteht das Durchschnittsvolk nicht. Viele glauben, Politik sei ein Hobby, eine Veranlagung, etwas sehr Schwieriges - etwa wie Mathematik.
Da man meist ein anderes oder garkein Hobby außer Fernsehen hat, hält sich mancher für "unpolitisch". Aber wehe, wenn seine Rente gekürzt wird, oder die Flughafen-Einflugschneise wird um 2 Km in Richtung des eigenen Hauses verlängert ! Dann gründet auch der kleine Mann eine Bürgerinitiative.
Vor kurzem hörte ich, der norwegische Dichter und Dramatiker Strindberg habe sich für "unpolitisch" gehalten. Ich vermute, daß Künstler tatsächlich die Chance haben, sich geistig soweit von der Realität der Politik zu entfernen, daß sie Politik weitgehend ausklammern können. Allerdings gilt das auch wohl nur für sehr erfolgreiche Künstler. Die ärmeren unter ihnen sind meist in der Künstlergewerkschaft organisiert und kämpfen mit dieser auch politisch für ihre Rechte.
Perivisor