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Wien - Berlin

G

Gaius

Guest
Wien wird mindestens für die nächsten fünfzig Jahre die west-östliche Metropole Europas sein, wirtschaftlich wie kulturell. Es wäre nicht zum ersten Mal. Das in seinen Kiezen sich verstrickende Berlin, Sitz der Regierung des wirtschaftlich und politisch immernoch stärksten Landes der EU, hat da was verpasst: den Anschluß an die Welt.

Sag ich mal, als These. Vielleicht ist was dran?
 
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Hallo Gaius !

Ich bin zwar nur ein Wahlwiener (seit 1978 in Wien; gebürtiger Steirer) und sicher gibt es Menschen hier, die sowohl Wien als auch Berlin besser kennen als ich, ich will aber deinen Beitrag nicht so alleine stehen lassen.

Ich war vor kurzem (September dieses Jahres) insgesamt 5 Tage mit einer Reisegruppe in Berlin (An- und Abreise abgezogen blieben 3 volle Tage).

Meine Eindrücke im direkten Vergleich:

Berlin ist doppelt so groß wie Wien: an Menschen, an Fläche und im EU-Kontext wohl auch an Macht.
Ich fand es aber nur halb so schön (Architektur) und das Essen nur halb so schmackhaft (lecker).

Möglich, dass Wien an Beliebtheit als Tourismusziel auch vorne ist.

Ob es die nächsten 50 Jahre in kultureller und wirtschaflicher Hinsicht vorne liegt, muss ich bezweifeln. Sobald Ihr Euren großen Brocken - die Vereinigung von West- und Ostdeutschland - richtig verdaut und aufgearbeitet habt, keine Pseudo-Sozialdemokraten wie Schröder mehr an die Macht kommen, werdet ihr sicher wieder die Wirtschafts-Lokomotive Europas werden. Bitte nicht falsch verstehen, ich sage nicht, dass Schröder nichts Gutes machte. Dass Deutschland sich unter seiner Führung am Irak-Krieg nicht beteiligte hat mir sehr imponiert und geht mMn in die richtige Richtung - nämlich, dass sich Europa von den USA endlich wieder etwas abnabelt.

Jedenfalls, Gaius, danke ich als Österreicher dir, dass du eine Führungsrolle Wiens in Europa nicht ausschließt. Für den EU-Vorsitz im ersten Halbjahr 2006 können wir Selbstvertrauen brauchen.

Auf dass unsere beiden Heimatländer samt ihren Hauptstädten Beiträge leisten, mit denen wir uns vor Europa nicht zu schämen brauchen,

grüße ich Dich herzlich

Zeili
 
Hallo Zeili,

zunächst vielen Dank für Deine Antwort!

Zugegeben: mit Berlin bin ich nie so recht warm geworden, aber das hat vielleicht nicht viel zu sagen - die Hansestadt Hamburg ist ja auch nicht jedermanns Geschmack, auch wenn es hier lange nicht so unterkühlt zugeht, wie das Klischee es will. Sorgen macht mir etwas anderes: ich hatte eine ganze Reihe Freunde und Bekannte, die nach der Wende nach Berlin gegangen sind, vor allem aus dem Medienbereich - nach anfänglichen beruflichen Erfolgen sind die aufgrund von Firmenpleiten fast alle arbeitslos geworden und haben die Stadt inzwischen wieder verlassen müssen, teils widerwillig. Die politische Macht Berlins ist ja schön und gut - aber was solls, wenn man dort nur schwer Arbeit findet? Sicherlich ist das nicht allein ein berliner Problem, aber im Falle der Hauptstadt scheint mir das doch etwas extrem zu sein.

Vor der Wende kam mir (West-) Berlin eher wie eine kunterbunte Insel vor, auf der die Lebensfreude auch mit einer gewissen Zukunftsvergessenheit full speed ausgekostet wurde. Mich würde interessieren, wieviel sich - aus Sicht eines Berliners - davon erhalten hat; bei meinen letzten Besuchen, zuletzt vor ca. anderthalb Jahren, fand ich die Stadt ein bißchen arg deprimierend, und das beunruhigt mich. Es scheint nicht mehr das zu sein, was es einmal war, etwa die Kleinkunstszene betreffend. Ein anderes Beispiel: da ging ich etwa drei Stunden durch Schöneberg spazieren, und traf die ganze Zeit kein einziges deutsches Kind auf der Straße. Sicher, das ist nur eine einzelne, eher zufällige Beobachtung.

Über Wien - leider war ich erst zweimal als begeisterter Besucher dort - lese und höre ich überwiegend positives, bei allen skurrilen Merkwürdigkeiten. So erklärte mir dort einmal ein Gastwirt nach längerem Gespräch, er sei "nationaler Sozialist." Schau an, denke ich, und frage ihn: "Ja, welcher Nation denn?" "Der deutschen, natürlich!" Kulinarisch und architektonisch gebe ich Wien allemal den Vorzug, die Berliner mögen mir verzeihen. Aufgefallen ist mir vor einiger Zeit in einem Zeitungsartikel ein Satz, die Wirtschaft betreffend: Für Unternehmer böte Österreich alle Vorteile, die Deutschland auch böte - nur die Nachteile eben nicht: hohe und komplizierte Steuern, langwierige Genehmingungsverfahren... nun haben z.B. in der Donaucity ca. 300 internationale Konzerne ihre Zentralen für Osteuropa eingerichtet - in Berlin eben nicht, obwohl die Stadt geographisch für den Osthandel ja auch nicht eben weit ab vom Schuß liegt.

Wenn ich oben davon sprach, Berlin habe als Metropole "den Anschluß zur Welt verpasst", so war das gewiß in unzulässiger Weise überspitzt. Auch ist der Vergleich der beiden Hauptstädte aufgrund ihrer sehr verschiedenen Geschichte sicherlich problematisch.

Grüße ebenfalls recht herzlich, Gaius
 
Verzeiht mir wenn ich mich hier mal so einmische.
Ich selber bin auch noch nicht oft in unserer Hauptstadt gewesen und kann über etwaige Verhältnisse genau so wenig berichten, wie ein gut belesener Deutscher Staatsbürger.
Was mir aber seit jeher auffällt ist, das es in Wien eine Integration von Ausländern gibt, die ich nirgends wo auf der Welt gesehen habe. Irgendwie bekomme ich das Gefühl, das der Wiener mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Interesse und vor allem aus den seit Jahrhunderten vermischten Bevölkerungsgruppen, das Thema Integration viel lockerer sieht als andere.

Täusch ich mich da Zeili ?

Ich hatte mal die Ehre mit einem Ur-Wiener Taxi zu fahren und alleine diese Fahrt war ein Erlebnis besonderer Art. Ein Vortrag über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Wien - einfach köstlich ! Freilich wird über die *Zigeina* und über die *Tschutsch´n* genauso geschimpft wie überall, nur hab ich das Gefühl das der Wiener das im Grunde seines Herzens nicht ernst meint.

Vielleicht ist eben diese Offenheit, anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber die Wien als Wirtschaftsstandort interessant macht ?
 
Gaius,

leider kenne ich als Berliner Wien nicht, um auf alle Fragen eingehen zu können. Und es ist wohl auch eine Frage des Alters wie man Berlin beurteilt.

Zeili schreibt richtig, dass nicht nur die Berliner, sondern ganz Deutschland erst einmal den Brocken der Wiedervereinigung mit allen Problemen verdaut haben muss, die sich in der rund 50 Jahre geteilten Stadt (auch schon vor der Mauer gab es die Teilung!) besonders deutlich wiederspiegeln. Denke auch daran, wie lange im Bundestag debattiert wurde, ob Berlin Hauptstadt werden solle, wie unwillig Bundesbedienstete nach Berlin zogen, dass die Brandenburger keine Vereinigung mit dem Bundesland Berlin wollten usw. Wir sollten wirklich mal 50 Jahre abwarten und nicht unserer Lieblingbeschäftigung nachgehen und jammern, dass die Wirtschaft anderswo viel besser laufe oder Berlin als Kulturstadt nicht mithalten könne.

Wir Deutschen sind, glaube ich, Weltmeister im Lamentieren, wie die letzten Monate und Jahre zeigen.

Ich jedenfalls fühle mich in meiner Heimatstadt wohl: wo kann ich nicht nur in Berlin selbst, sondern auch im Umland Kultur und Umgebung gleichermaßen genießen? In gut zwei Stunden bin ich sogar am Meer - da sieht der Wiener blaß aus, es sei denn er bezeichnet Neusiedler- oder Plattensee als solches:rolleyes:

Und was die Ansiedlung von Repräsentanzen der Wirtschaft in Wien bzw. Berlin anbelangt, so könnte diese Frage vielleicht im Rahmen einer wirklichen EU völlig belanglos werden. Vielleicht nimmt Warschau da die Rolle ein, die Wien derzeit spielt?! Oder aber die Musik spielt ganz woanders, wofür ja alles spricht.
 
Ich bin auch eine Berlinerin
Ich habe aber meinen Lebensmittelpunkt in Wien.


Bin also in der ( un)glücklichen Lage - das wegen meiner höchst mangelhaften Kenntniss des Gefüges im sich abzeichnenden globalen Neoliberalismus - diese Frage von der unbeleckten Lieschen Müllerseite aus zu sehen.
Und so dazu :

Wien = Österreich gelesen, hat als Erbe des Vielvölkerstaates die Gunst der Stunde, der geographischen Lage und eben des historischen Raumes genutzt und mag im Agenblick die besseren Karten haben.
Aber auch Berlin = Preußen gelesen , hat traditionell sehr sehr gute ( auch wirtschaftliche) Beziehungen zu Russland ( gehabt).


Da der russische Markt allein ausreicht, mit richtigen = kapitalsträchtigen Gewinnen zu versorgen, sehe ich das Ganze nicht so tragisch. Wie Du, Baerliner!


Ob die Mentalität der Bewohner, die Schönheit der Hauptstädte usw in diesem globalen Machtkampf, in dem es ja mittelfristig - mMn - darum geht, neben China und dem asiatischen Markt als Wirtschaftsstandort zu bestehen, wage ich zu bezweifeln.

Aba: weils grade so schön nicht passt: eine Anekdote, die auf unterschiedliche Mentalitäten hinweisen.
Sagt der Deutsche: " Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos"!
So sagt der Österreicher: " Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst."


Egal, was stimmt, ernst ist die Lage auf dem Markt sicher. Und das spüren wir - auch als deklarierte Nichtjammerer, die es hier und da gibt - alle.


Marianne
 
Fatboy schrieb:
Verzeiht mir wenn ich mich hier mal so einmische.
Ich selber bin auch noch nicht oft in unserer Hauptstadt gewesen und kann über etwaige Verhältnisse genau so wenig berichten, wie ein gut belesener Deutscher Staatsbürger.
Was mir aber seit jeher auffällt ist, das es in Wien eine Integration von Ausländern gibt, die ich nirgends wo auf der Welt gesehen habe. Irgendwie bekomme ich das Gefühl, das der Wiener mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit, Interesse und vor allem aus den seit Jahrhunderten vermischten Bevölkerungsgruppen, das Thema Integration viel lockerer sieht als andere.

Täusch ich mich da Zeili ?
Wie geschrieben, war ich nur 3 volle Tage in Berlin; ich wohnte im Bezirk Prenzlauer Berg und da fiel mir auf, dass in meiner unmittelbaren Umgebung ab 22 Uhr nur ein Lokal offen war und das war ein von einem Türken betriebenes. Das gibt es zwar in manchen Bezirken in Wien auch, weist aber mE darauf hin, dass bei Euch den Ausländern zumindest behördlicherseits gleiche (wirtschaftliche) Chancen wie den Inländern zugebilligt werden. Welche Stadt mehr Erfahrung mit Zuwanderern hat, kann ich nicht sagen. Durch eure lange Besetzung werdet ihr auch einiges gewohnt sein.

Ich hatte mal die Ehre mit einem Ur-Wiener Taxi zu fahren und alleine diese Fahrt war ein Erlebnis besonderer Art. Ein Vortrag über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen in Wien - einfach köstlich ! Freilich wird über die *Zigeina* und über die *Tschutsch´n* genauso geschimpft wie überall, nur hab ich das Gefühl das der Wiener das im Grunde seines Herzens nicht ernst meint.

Vielleicht ist eben diese Offenheit, anderen Bevölkerungsgruppen gegenüber die Wien als Wirtschaftsstandort interessant macht ?
Naja - bei der letzten Wiener Gemeinderatswahl bekamen die "Wiener Nationalisten" (Strache) immerhin 16 %. Aber dieser Strache ist - laut Selbstverständnis - kein Haider-Fan. Er hält sich für einen ganz besonderen Chauvinisten. Ich mag keinen von beiden und habe auch noch keinen gewählt.

Liebe Grüße

Zeili
 
Zeilinger schrieb:
Wie geschrieben, war ich nur 3 volle Tage in Berlin; ich wohnte im Bezirk Prenzlauer Berg und da fiel mir auf, dass in meiner unmittelbaren Umgebung ab 22 Uhr nur ein Lokal offen war und das war ein von einem Türken betriebenes.

Prenzlberch ist ein großer Bezirk. Und einer, wo man die Vielfalt Berlins studieren kann: teils Touristengegend, wo sich amerikanische Präsidenten "hinverirrt haben", teils ehemalige Arbeiterviertel, die heute von Türken bewohnt werden und wo man auch fast nur noch türkische Gewerbetreibende findet, teils Künstlerviertel (ehemalige Kreuzberger Künstler sind nach der Wende dorthin gezogen), aber auch "gutbürgerliche" Gegenden. Fundiert kann wohl nur Robin diesen Bezirk beschreiben, aber ich glaube, dass die Kurzdarstellung von mir stimmt.

Ich glaube, Du hast Prenzlberch nicht kennenlernen können, denn als Teil einer Reisegruppe hat man nur wenig Zeit, sich auf eigene Faust umzusehen.
Und beim ersten Besuch einer fremden Stadt wollen die meisten auch "geführt" werden.

Dass Lokale in Berlin häufig schon ab 22 Uhr geschlossen sind, liegt wohl daran, dass das Geld nicht mehr so locker sitzt. Abgesehen davon, dass das Fernsehen die alten Kneipenbesucher davon abhält, Kommunikation mit andern bei einem frisch gezapften Bier zu suchen.
 
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von nun an gings bergab

Wie bitte, die Kneipen machen um zehne schon dicht? Wenn das mal kein Zeichen des Niedergangs ist! :hamster:

baerliner schrieb:
Wir Deutschen sind, glaube ich, Weltmeister im Lamentieren, wie die letzten Monate und Jahre zeigen.
Klaro, und vor allem jammern wir liebend gerne darüber, dass wir andauernd jammern :)

Einen Vorteil hats ja, wenn um zehn Uhr abends Zapfenstreich ist: dann hockt das Volk nicht die ganze Nacht durch am Tresen und beklagt die Misere der Republik...

Aber wie siehts denn so mit dem Leerstand von Gewerberäumen aus, oder mit dem traditionellen Fach- und Einzelhandel? Alles Lidl, oder was?

Heulend und zähneknirschend,
Gaius
 
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