Hier nun einige Auszüge aus dem Interview mit Prof. Kollmorgen.
Er sagt gleich zu Anfang: "Ich habe das Gefühl, daß wir dazu neigen, relativ schnell zu wissen, gegen wen oder was sich unsere Demokratie zur Wehr setzen muß. Und ich würde empfehlen, daß wir da versuchen innezuhalten und uns zu fragen, ob manchmal das Problem nicht größer ist, vielleicht auch manchmal kleiner, als wir denken. ... Das eine, was mir heute wirklich immer wieder auffällt, ist, daß wir in auch schon einfachen politischen Diskussionen vielfach dazu neigen, uns sehr verletzlich zu zeigen, sehr schnell bereit sind, uns zu empören und anzunehmen, daß es am Ende doch nur eine Lösung geben kann, also das Gespräch eigentlich auch in der Erwartung führen und uns die Meinung der anderen anhören, wir müßten sie zu uns herüberziehen, wir müßten sie von dem überzeugen, was wir denken, und eigentlich vielfach schon die Lösung im Kopf haben. Und das ist das Gegenteil der demokratischen Idee, die ja davon lebt, daß man voraussetzt, daß es unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Positionen, gibt, die man nur bedingt wirklich vermitteln kann, wo man das Andere, auch das ganz Andere, aushalten können muß, und dann nach Lösungen sucht, wie man trotzdem friedlich miteinander leben und das Gemeinwesen weiterentwickeln kann. Das scheint mir ein sehr wichtiger Punkt zu sein. Das schließt im übrigen auch die Debatte, die Auseinandersetzung, mit den sogenannten Feinden der Demokratie (und manchmal sind es auch wirkliche Feinde) ein. Ich habe das deswegen so formuliert, weil wir bei vielen relativ schnell dabei sind, zu sagen, "die sind nicht demokratisch orientiert", also sehr schnell diese Keule des sich selbst Herauskatapultierens aus dem demokratischen Raum schwingen. Das halte ich tatsächlich für eine sehr problematische Entwicklung."
Und dann gegen Ende des Interviews noch: "Also mir geht es darum, daß wir verstehen, daß Demokratie eigentlich nur angemessen funktionieren kann, wenn wir erstens den anderen - den Andersdenkenden in seinem Andersdenken - ernstnehmen, und wenn nicht das erste Ziel der demokratischen Anstrengung ist, den anderen von der eigenen Position zu überzeugen (das kann ein sekundäres oder tertiäres Ziel sein). Also der andere ist nicht, weil er eine andere Meinung hat, dumm oder ein Antidemokrat, sondern er hat eben eine andere Position, und sich nicht gleich verletzt zu zeigen, wenn man feststellt, man ist da woanders, und der andere hat eben nicht die Meinung, die man selbst hat. Und daß man dann zweitens daran geht, einen Kompromiß zu suchen. Also vielfach ist Politik auch wirklich Kompromiß. Aber es sollte ein informierter, den anderen je anerkennender Kompromiß sein. ... Und im übrigen bedeutet es auch, daß man akzeptiert, daß Werte und Normen, die wir alle haben, relativ sind und relativ bleiben. In unserem heutigen politischen Prozeß obwaltet ja oft nicht nur eine moralische Grundierung, sondern eben auch moralische Empörung, wenn jemand Werte zu verkörpern scheint, die man selbst nicht hat. Das ist aber in unseren Gesellschaften, und insbesondere in unserer globalen Gesellschaft, wirklich der Normalfall. Und die Annahme, wir könnten je die anderen davon überzeugen, unseren Werten zu folgen, und vor allem die Annahme, es sei doch klar, daß unsere Werte die universellen und die universell richtigen sind, die halte ich wirklich für problematisch."
Zu den gegenwärtigen Protesten in Ostdeutschland sagt er: "diese Debatte: wie kann man eigentlich protestieren, wie demokratisch ist eigentlich welcher Protest auf der Straße, und wie verhält sich diese Protestkultur, die wir im Osten mit Sicherheit in einer anderen Weise haben als typischerweise im Westen, wie verhält sich die zu den klassischen Formen der Vertretung und der Mitbestimmung der Partizipation? ... Es gibt so etwas, wie eine starke westdeutsche politische Klasse und einen Staatsapparat, der den Rhythmus vorgibt, der die Orientierung auch gegen den Willen lokaler regionaler Bevölkerungen durchdrückt. Genau deswegen versucht man dann in dieser ostdeutschen Protestkultur auf die Straße zu gehen und demonstriert in den bekannten Montagsdemonstrationen. Und egal, ob es jetzt gegen Corona geht, gegen die Ukraine oder gegen die Rußlandpolitik, die Energiepolitik. Hier kommt es mir einmal nur darauf an, den Punkt stark zu machen, daß die meisten westdeutschen Politikerinnen und Politiker das in der Tat als eine Normabweichung begreifen und eher darum bemüht sind, die Ostdeutschen einzufangen und auf diesen Pfad der Tugend - der westdeutschen Norm - zurückzuholen, als sich die Frage zu stellen, wird da etwas artikuliert, was vielleicht auch Probleme berührt, die wir in Westdeutschland haben, wird uns da der Spiegel vorgehalten. Das wird eher wenig gemacht. ... Es gibt ein Selbstbild im politischen Betrieb Westdeutschlands, daß in der Tat das Westdeutsche die Norm ist. Ich glaube, da verschwindet die sogenannte Stunde Null 1945 so ein bißchen im Nebel der Geschichte mittlerweile, und man ist davon überzeugt, daß man eben in diesen vielen Jahren und Jahrzehnten bis 1989/90 sich die Demokratie nicht nur angeeignet, sondern auch wirklich ein funktionierendes Institutionssystem geschaffen hat, das sich sehen lassen kann. ... Da gibt es schon so etwas, wie eine Selbstüberzeugung, daß wir starke Demokratinnen und Demokraten im Westen sind, die jetzt auch das Recht haben, den Ostdeutschen, die da keine Erfahrungen haben, mal zu erklären, was Demokratie ist. Und richtig ist, viele Ostdeutsche, geradezu diejenigen, die diese friedliche Revolution und die ersten Transformationsjahre sehr aktiv gestaltet haben, sind nicht zufrieden damit, daß genau diese Leistung des Selbsterkämpfens der Demokratie, des Experimentierens mit Formen, die es eben in Westdeutschland nie gegeben hat - also man darf noch mal an die runden Tische erinnern, an die Erweiterung des Grundrechtekatalogs, und und und - daß das von vielen Westdeutschen als Marginalie abgetan und vielfach auch ausgeblendet wird, und daß es eben relativ schnell diese deutliche Asymmetrie gegeben hat, ... auch im demokratischen Prozeß, weil man glaubte, daß sie eben unerfahren sind, daß sie nicht wissen, wie es geht, daß auch eine angemessene politische Kultur nicht existiert. Der hat natürlich viele geprägt bis heute."