Anspruch und Erfüllung.
Den Opernball lasse ich heute sausen, weil ein Pferd auf dem Tanzparkett halt wirklich nicht
nach meinem Geschmack ist.
Da widme ich mich lieber wieder dem ganz großen Aufreger-Thema "Wittgensteins Tractatus".
Es braucht ja nur jemand das Wort Trac... halblaut zu denken, und schon sprießen die Kommentare
wie die Pilze aus dem Boden, da werden innerhalb eines halben Jahrzehnts gleich mehr als zwei
Kommentare abgegeben.
So erquicklich und belebend dieser imposante Trubel auch ist, manchmal wirkt er fast schon
irritierend und beängstigend. Ich habe mich in dieser Frage ja zurückgehalten und nach der Lektüre
des Tractatus meine Meinung mehr als ein Jahrzehnt lang nur im engsten Kreis artikuliert,
aber schließlich fühle ich mich nun doch geradezu verpflichtet, meinen Senf auch hier dazuzugeben.
Das ist gewissermaßen Ehrensache, ein Ehrensenf also, eben unmissverständlicher Ausdruck
meiner Freigiebigkeit und Großzügigkeit, meiner nahezu grenzenlosen Bereitschaft, andere an
meinem Philosophieren teilhaben zu lassen.
Damit wären wir nun wieder beim Thema Philosophieren.
Wenn eine der wichtigsten Antriebskräfte für ein Philosophieren das Bestreben ist,
zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammenhält,
dann muss beim Philosophieren im Zentrum der Aufmerksamkeit stets die Frage stehen:
Ist eine getroffene Aussage über die Welt zutreffend ?
Damit dieser Fokus auch erhalten bleiben kann, muss an philosophischen Texten
allem voran klar sein, welche Aussage denn nun eigentlich getroffen wird.
Ein Text, der den Leser auf eine Rätsel-Rally schickt und ihn erst einmal mühsam 99.999
verschiedene Interpretationsmöglichkeiten auseinanderklauben lässt, um mittels statistischer
Analyse zu einer Vermutung zu gelangen, was mit diesem Rätselwort denn gemeint sein könnte, ...
ein solcher Text kann nie und nimmer den Anspruch erheben, ein philosophischer Text zu sein.
Solche kryptischen Texte taugen bestenfalls für Orakel oder für Offenbarungen,
für einen philosophischen Diskurs sind sie schlichtweg unbrauchbar.
Ludwig Wittgenstein muss die Bedeutung der Klarheit von Aussagen bewusst gewesen sein,
denn im Vorwort zu seinem Tractatus vernehmlasst er in gestrengem Schulmeisterton:
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen;
und worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.
Gut gebrüllt, Luigi, wirklich
seeeehr gut !
Doch warum, zum Kuckuck, hat sich Wittgenstein dann nicht
an seinen eigenen Empfehlungen und Forderungen orientiert ?
Im Tractatus beginnt schon beim zweiten Satz
"Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge" das große Raten:
Was ist mit diesem Rätselwort gemeint ?
Das kann doch nicht wahr sein ! Da pocht einer lautstark auf Klarheit und Wahrheit,
und serviert dann noch im selben Atemzug einen Orakelspruch ???
Auf gut Wienerisch würde man da fragen: Ja spinnnnt denn der ?
Und die Antwort darauf lautet: Joho, owa ned wenig !
Das musste auch einmal mit aller Klarheit gesagt werden.
P.S.: Rein zufällig wurde der Tractatus auch im Eröffnungsbeitrag dieses Threads
als "enigmatisch" eingestuft. **hintergründiggrins**