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Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Miriam

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26. Juni 2005
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9.722
Als ich heute die zwei Beiträge die Zwetsche im Thread "Eva Herman" so treffend formuliert hat las (#69 und #70), dachte ich mir, dass wir uns mit dem ganzen Komplex dieser Thematik befassen müssten.

Warum es mir trotzdem schwer fällt: ich habe die Zeiten der so genannten Idealisierung der Juden als Kind miterlebt – und weiß wo diese geendet hat.
Vorab aber diese Bemerkung: es geht mir hier überhaupt nicht um diesen einen Aspekt, sondern um die Fehleinschätzung allgemein dessen was der ganze Komplex des neonazistischen Gedankengutes eigentlich bedeutet.

Zwar kommen viele der NPD-Köpfe – wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann – aus dem Westen, es gibt aber eine Gegend in Deutschland in der die NPD eine - zwar relative - Mehrheit erzielt hat, so dass es zum Beispiel in Reinhardtsdorf-Schöna fast zur Wahl eines NPD-Bürgermeisters kam.
Der Grund dafür ist unter anderem die Tatsache, dass diejenigen die dieser Partei angehören völlig normal ins Leben und ins Dorfbild integriert sind, als Nachbarn mit denen leben, die sich vielleicht nur nicht trauen ihr Unbehagen dabei kund zu tun.

In Reinhardtsdorf-Schöna hat zuletzt jeder vierte bei den Wahlen seine Stimme der NPD gegeben. Viele der Handwerker auf die man Tag für Tag angewiesen ist sind Mitglieder der NPD, noch zahlreicher sind natürlich diejenigen die diese Partei wählen (25%).

Die oben erwähnte Ortschaft befindet sich in der Sächsischen Schweiz - und diese ist im Allgemeinen stark von der NPD geprägt – hier ist man vielerorts so richtig unter sich.
Dass auf den Bürgersteigen manchmal Schmierereien stehen wie "Juden raus" – stößt nur bei manchen Bewohnern auf offene Empörung. Und wie so oft in der Geschichte: es werden antisemitische Parolen verbreitet, dort wo fast keine Juden eigentlich leben.

Natürlich ist der Antisemitismus nur eine Facette des Gedankengutes der NPD. Erschütternd ist, wie ich es schon oben erwähnte, dass es in Reinhardtsdorf-Schöna fast zur Wahl eines NPD-Bürgermeisters gekommen ist, und dies an den Kirchen, an den anderen Parteien vorbei und man kann auch sagen: trotz der großen Präsenz der Medien.

NPD-Funktionäre wie Mario Viehrig ist NPD-Gemeinderatmitglied und war früher Betreuer der SSS (Skinheads Sächsische Schweiz) – die später verboten wurde.
Auf die Aktivitäten der SSS und ihrer Vertreter in der Sächsischen Schweiz, wies schon in 2004 ein Artikel im Stern hin:

http://www.stern.de/politik/deutschland/index.html?id=527611&p=2&nv=ct_cb

Michael Jacobi, Besitzer einer Heizungsbaufirma, ist ebenfalls NPD-Gemeinderat - auch er einer der schon durch seinem Beruf bestens in die Ortschaft integriert ist.

Als in diesem Jahr die Kirmes stattfand und man die Präsenz der Medien da vermutete, erteilte Jacobi vor seinem Haus der NPD-Jugend den Befehl diese zu meiden. Denn die Gefahr von TV-Bildern scheint man doch zu kennen.
Andere wieder bitten die Reporter ihre Kinder nicht zu filmen, so auch der parteilose ehrenamtliche Bürgermeister Olaf Ehrlich, der sich auch nicht mehr traut seine Kinder ins Zeltlager zu schicken, wegen seines Engagements gegen Rechts.
Wenn man früher die Glatzen schnell ausmachen konnte, ist dies jetzt schwierig geworden, man gibt sich so auf Anhieb nicht mehr zu erkennen.

Dass sich gegen die Wahl eines NPD-Bürgermeisters fast im Alleingang eine Frau engagierte, beweist letztendlich, dass Zivilcourage doch ihr Ziel erreichen mag, sogar gegen das Schweigen oder dem Mitläufertum einer Mehrheit.
Auch wenn ihr Kampf erst fast dem eines weiblichen Don Quichotte glich, wurde Bianca Richter aktiv und gründete eine Wählerinitiative die den parteilosen Olaf Ehrlich als Bürgermeisterkandidaten aufstellte. Letztendlich gewann dieser auch die Wahlen und wurde Bürgermeister in Reinhardtsdorf-Schöna.

Bianca Richter wurde zwar erst von der Kirche unterstützt durch die Pfarrerin Christiane Rau – die mit viel Zivilcourage sich von der Kanzel gegen die Braunen aussprach. Dies geschah aber nur bis 2006, danach wurde ihre Stelle gestrichen – angeblich wegen einer zu geringen Anzahl an Kirchenbesucher. So übernahm ein Pfarrer einer anderen Gemeinde die Mitbetreuung der Kirche in Reinhardtsdorf-Schöna. Dieser aber möchte sich nicht auf diesem Wege engagieren und betont, dass die NPD erst durch die Medien so viel Zulauf erfahren habe.

Bianca Richter die Psychologin ist, erklärt in einer Studie wie schwer es ist die NPD-Leute in einem solchen Dorf auszugrenzen, da die Menschen im Dorf sich so zu sagen einer Schweigespirale anpassen. Man positioniert sich nicht öffentlich gegen den Rechtsextremismus bzw. der NPD, weil man der falschen Wahrnehmung unterliegt, dass man sich in einer Minderheit befindet.

Der eigentlich couragierte Bürgermeister hat Angst um seine Kinder – die NPD lässt wiederholt verlauten, dass sie den längeren Atem hat.

Marianne – falls du hier vorbeischaust: auch hier erweist es sich noch einmal, dass Schweigen oft nicht Gold ist.

Siehe dazu auch:

http://www.tagesschau.de/inland/meldung128174.html

und:

http://de.altermedia.info/general/r...parteienpolitikern-die-kante-130306_4773.html

Freundliche Grüße

Miriam

 
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AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Hallo Miriam.
Zwetsche reagierte mit diesen Posts auf meinen Beitrag, den er anscheinend falsch verstanden hat. Zweiffel und Frau Bezelmann verdeutlichen, wie ich es gemeint habe.
 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

hallo miriam,
ja genau so geht´s: die spirale mit der angst.
die autoritäre minderheit (sprich, die, die sich trauen auch gewaltsam oder mittels ihrer machpositionen gegen die anderen vorzugehen) zeigt öffentlich, wie stark sie ist. die unbedarfte mehrheit schweigt, weil sie sich´s persönlich nicht verscherzen will.

so hab ich das letztes jahr auch in der schule erlebt. die eltern (=mehrheit -jedoch nicht organisiert) schweigt. die lehrer (nicht alle; doch der größere teil) machen, was sie wollen.....aif kosten der kinder - wohlgemerkt.
eine gegengruppe (sprich elternverein) ist kaum zu erreichen, da sie keine mitglieder findet. die eltern schweigen aus angst, dass ihre kinder repressalien erleiden könnten.

anderer bereich - doch gleicher mechanismus

noch immer ist zivilcourage einigen wenigen vorbehalten in unserer gesellschaft.
die große mehrheit schweigt öffentlich und spricht nur hinter vorgehaltener hand über die missstände.

traurig aber wahr.
 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Liebe Kathi,

natürlich haben deine Erfahrungen in der Schule einen ganz engen Bezug auch zum Schweigen in der Politik, zum Wegsehen, andere machen lassen - wie gut ich dies noch kenne in etwas abgeschwächter Form aus der Zeit als meine Töchter zur Schule gingen!

Ich habe gestern fast zufällig einen Text gefunden der auch das Thema des Schweigens in den Schulen behandelt – noch dazu erschienen unter dem Titel "Warum Schweigen nicht immer Gold ist…" – scheint also eine große Aktualität zu haben.

Die Autorin Olga Leontieva war mir unbekannt, habe ein wenig recherchiert und erfahren, dass sie die Initiatorin und Leiterin der "Park-School" in Moskau ist. Sie leitet auch die Koordinierungsarbeit des internationalen Projektes EPOS (Educational Park of Open Studies).

Schweigen ist nicht immer Gold…

Während der Arbeit ist mir klar geworden, dass es ein gefährlicher Fehler ist, mit Schülern nicht über Probleme des Nationalismus zu sprechen.
Versuchen Sie nicht gleich mit mir zu streiten und zu beweisen, daß diese Fragen fast tagtäglich in jeder Schule zur Sprache gebracht werden.
Ich meine damit keinen Appell zu Liebe und Brüderlichkeit zwischen den Völkern. Ich meine eine inhaltliche Arbeit mit Schülern über Wertvorstellungen, Geschichte, Tragödien verschiedener Nationalitäten.

Wissen Sie, was mir eine Schülerin zum Projektbeginn gesagt hat? Auf die Frage, wer Juden sind, hat sie geantwortet: "Es sind Menschen, die einst auf unserer Erde gelebt haben".

Ja, von denen, die Juden, Tschetschenen und Tataren hassen, gibt es heute nicht mehr so viele in Rußland. Aber sie sind gefährlich, weil sie bereit sind, das auf jeder Straßenkreuzung laut zu schreien. Und Jugendlichen folgen gerne denen, die überzeugend sprechen, besonders wenn diesen Wörtern aus eigener Erfahrung nichts entgegenzusetzen ist.
Und die andere große Hälfte der Russen schweigt taktvoll aus unerklärlichen Gründen. Und… sie verlieren diese Kinder, denen in die Ohren geschrien wurde, daß die ganze Misere "die Nicht-Russen" verursacht haben.

Und noch ein Bild. Ein Junge, Teilnehmer unseres Projekts wurde gefragt, ob es Nationalitäten gibt, die er nicht mag. Ohne eine Sekunde zu zögern hat er geantwortet: "Ich mag keine Tataren"
"Auch Gulia magst du nicht? Und Fail? Und Farid?" – sie sind alle seine guten Freunde, Klassenkameraden. "Was haben sie damit zu tun?" – "Sie sind doch Tataren!" – "Dann mag ich Tataren!"
Jemand hat einmal in seiner Gegenwart etwas Gemeines über eine andere Nationalität gesagt, und er war bereit, das munter zu imitieren. Und er hätte es weiter gemacht, wenn es diese Situation nicht gegeben hätte.
Einer der Schüler sagte, daß er keine Kaukasier mag – andere nachahmend benutzte er einen seltsamen Begriff, mit dem viele Völker des Kaukasus zusammenfaßt worden sind, der aber zum gewöhnlichen Wort in Rußland wurde. Es hat sich herausgestellt, daß einer seiner Freunde Itschkeretz, und die beliebteste Lehrerin Armenierin ist. Sie stand auf und erzählte, wie sehr es ihr weh tut, wenn man respektlos über ihr Volk spricht.

Ich hoffe, wenn meine Schüler herabsetzende Worte über "Personen kaukasischer Nationalität" hören, werden sie sich an die Augen und die Liebenswürdigkeit von Nelli Gajkovna und Vitalik erinnern.
Vielen, wie auch mir, ist es egal, welcher Nationalität unsere Freunde sind; wir schätzen sie für ihre menschlichen Qualitäten, nicht für ihre Herkunft.
Wenn wir lieber das Thema mit unseren Schülern meiden und "taktvoll" darüber schweigen, wer unter unseren Freunden oder Schülern aus dem Kaukasus oder aus Tschetschenien stammt, wer Jude, Russe, oder Deutscher ist, machen wir einen Fehler.
Nein, Schweigen ist nicht immer Gold.

Olga Leontieva

aus:

http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch/schule_demokratie/auschwitz/artikel_olga_2001.php

 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Das zeigt für mich nur, wie wenig die Menschen gelernt haben.

Auf die Hetze gegen Muslime reagiert man mit weit mehr stiller Zustimmung als auf Hetze gegen Juden. Dass kein Unterschied besteht, scheint vielen nicht klar zu sein. Es nützt niemandem die Opfer als durch die Bank höher stehend (intelligenter, kulturell einflussreicher, moralisch besser) darzustellen, weil damit das Bewusstsein verlorengeht, dass eine Hetze gegen "schlechte" Menschen nicht besser ist als eine gegen "gute" Menschen. Völlig egal, wie jemand ist, nichts rechtfertigt den Hass.

Das Schulbeispiel kann ich nur unterschreiben. Die Menschen sind eben auf ihren eigenen Vorteil aus und schlängeln sich lieber durch um selbst zu erreichen was sie wollen. Vielen ist nicht klar, dass darin eine Gefahr liegt und es nicht nur verblendete Weltverbesserer sind, die aufstehen und sich wehren. Leider kann man aber nur verlieren, wenn man es wagt.
Ich wehrte mich in der Schule öfter, auch wegen anderen, stand aber dann alleine da und musste erleben wie mir sogar meine "Freunde" in den Rücken fielen.. Am Schluss wurde ich als ewiger Querulant abgestempelt.
 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Das zeigt für mich nur, wie wenig die Menschen gelernt haben.

Ich kann mich dem einfach nicht anschließen.

Denn zumindest eins hätten "die Menschen" auf jeden Fall schon lernen können: vom Jammern kommt gar nichts.

Was tust denn du persönlich um dir selbst zu zeigen, dass du "etwas gelernt" hast? :)

lg Frankie
 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

noch immer ist zivilcourage einigen wenigen vorbehalten in unserer gesellschaft.

Da habe ich jetzt kurz lachen müssen, bitte verzeih mir:

Zivilcourage ist ja, dass ich zu den wenigen gehören, die sich nichts gefallen lassen. Und dass ich mich trotzdem nicht entmutigen lasse. Oder? :)

lg Frankie
 
AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

frankie schrieb:
Denn zumindest eins hätten "die Menschen" auf jeden Fall schon lernen können: vom Jammern kommt gar nichts.

Jammern - also Heulen und Wehklagen - ist im emotionalen Bereich das, was im rationalen Bereich das Nachdenken und Zusammenhänge Herstellen ist. Beides sind sehr wichtige Vorgänge, die zur umfassenden Wahrnehmung und Feststellung des aktuellen Zustands beitragen.

Es ist also nicht richtig, das Jammern als unnützen Vorgang einzustufen. Damit schiebt man die Gefühle in die Ecke der zu ignorierenden Nebensächlichkeiten ab, von wo sie unkontrolliert überall dort auftauchen, wo man sie am wenigsten erwartet.
 
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AW: Spirale des Schweigens versus Zivilcourage

Jammern - also Heulen und Wehklagen - ist im emotionalen Bereich das, was im rationalen Bereich das Nachdenken und Zusammenhänge Herstellen ist. Beides sind sehr wichtige Vorgänge, die zur umfassenden Wahrnehmung und Feststellung des aktuellen Zustands beitragen.

Ja, Heulen und Wehklagen, Trauern, echte, ernste, tiefgehende Gefühle entsprechen sicher auf emotionaler Seite dem, was das Nachdenken auf rationaler Seite leistet.

Aber endloses Grübeln bis zum Tod, ohne jemals eine Entscheidung zu fällen oder für irgendetwas die Verantwortung zu übernehmen, das entspricht rational dem, was das Jammern emotional leistet: in beiden Fällen ist es das Erstarren und praktisch tot sein: im einen Fall gehirntot, im anderen Fall herztot. :)

lg Frankie
 
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