Bewahren Physiker die nötige kritische Distanz gegenüber der Mathematik?
In etlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen scheint es unabdingbar,
dass sich die jeweiligen Wissenschafter mit Mathematik anfreunden;
beispielsweise wäre ein Physiker, der mit Mathematik auf Kriegsfuß steht,
nur sehr schwer vorstellbar.
Wie eng darf aber das Naheverhältnis eines Physikers zur Mathematik werden,
darf es bis zu einer Mathematik-Verliebtheit gehen, und wenn Nein, warum nicht?
Oder andersherum gefragt:
Warum soll es wünschenswert sein, eine kritische Distanz zu bewahren?
Liebe macht bekanntlich blind; macht vertrauensselig, leichtgläubig, unvorsichtig;
mit einem Wort unkritisch.
Dass ein unkritisches Verhältnis zur Mathematik für die Ergebnisse der Arbeit von Physikern
problematisch werden kann, wird ersichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt,
dass Mathematik eine Sprache ist.
Mathematik ist eine Kunst-Sprache, die der Physiker zur Beschreibung von Beziehungen
zwischen physikalischen Größen verwendet.
Die Regeln der Kunst-Sprache Mathematik spielen etwa die gleiche Rolle wie die Syntax
der natürlichen Sprachen.
Die in natürlicher Sprache formulierte Aussage "Die Sonne dreht sich um die Erde"
ist syntaktisch völlig korrekt, inhaltlich aber dennoch falsch.
Damit eine Aussage korrekt ist, reicht es also nicht aus, dass die Syntax korrekt ist,
es muss auch die Semantik stimmen.
Analog dazu, muss bei jedem mathematisch beschriebenen physikalischen Zusammenhang
(Gleichung) überprüft werden, was diese Gleichung nun physikalisch bedeutet
und ob diese Aussage korrekt ist.
Diese Überprüfung muss nach jeder Umformung einer Gleichung erfolgen!
Die Notwendigkeit einer solchen Überprüfung nach jeder Umformung sei am Beispiel
einer sehr einfachen Gleichung illustriert.
Angenommen sei eine einfache Beziehung: Die Größe y ist das immer gleiche Vielfache von x.
[1] y = k.x
Diese Beziehung sei zufriedenstellend theoretisch begründet und experimentell bestätigt,
sodass sie in den festen Glaubensbestand der Physiker übernommen wird.
Den Regeln der Mathematik folgend (syntaktisch korrekt),
lässt sich die Gleichung [1] nach k umstellen.
[2] k = y:x
Die physikalisch korrekte Lesart der Gleichung [2] lautet in diesem Fall:
"k ist der immer gleiche Verhältniswert von y und x".
Implizit wird bei dieser Lesart ausgesagt:
"Ein hier nicht benannter Wirkungsmechanismus sorgt dafür,
dass die Größen y und x immer im Verhältnis k zueinander stehen."
Graphisch dargestellt, ist k eine Gerade, die parallel zur x-Achse verläuft.
Die Gleichung [2] kann aber auch auf eine andere Art gelesen werden, nämlich:
"k ist eine Funktion von y und x".
Bei dieser Lesart kann die Größe k plötzlich eine völlig andere Charakteristik annehmen,
sie ist nun nicht mehr notwendigerweise eine Konstante, sondern in der graphischen Darstellung
eine Hyperbel. Bei x=0, ist k Unendlich; wenn x gegen Unendlich geht, geht k gegen 0.
Diese Veränderung der Charakteristik von k war möglich, weil die Formel [2]
nicht die Rahmenbedingung mittransportiert, dass ein Wirkungsmechanismus
für ein immer gleichbleibendes Verhältnis von y und x sorgt.
Schon an dieser sehr einfachen Umformung einer sehr einfachen Gleichung wird deutlich:
Um sicherzustellen, dass die ausgewählte Lesart einer umgestellten Gleichung
auch "physically correct" ist, sind zusätzlich zur Gleichung selbst
immer auch alle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen,
unter denen die ursprüngliche Gleichung als korrekt akzeptiert wurde.
Das führt nun zu der bangen Frage an die Physiker (Grüße auch an Steven Hawking):
Inwieweit kann sich Otto Normalverbraucher von physikalischen Theorien und Erklärungsmodellen
darauf verlassen, dass die Physiker bei den mathematischen Herleitungen von Beziehungen
zwischen physikalischen Größen, auch bei jedem Schritt der Umformung der Gleichungen
penibel die physikalische Bedeutung der jeweils neu gewonnenen Gleichung
unter Berücksichtigung aller relevanten Rahmenbedingungen (gültige Wertebereiche, etc.)
überprüfen?
Das musste auch einmal in aller Klarheit und Neu_Gier gefragt werden.