AlexKonrad
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Kapitel 70
In der Erwartung, das eine oder andere zu finden, das ich für mein Buch verwerten könnte, durchforste ich ein altes Manuskript. Es dürfte an die zehn Jahre her sein, seit ich die Sachen geschrieben habe. Die Lektüre des gegenwärtigen Abschnitts versetzt mich in die Zeit meiner frühen Kindheit.
Es muss neunundvierzig oder fünfzig gewesen sein. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Zu jener Zeit lebte ich bei meiner Großmutter in Lembach auf dem Land. Die Nachbarn von Gegenüber hielten einige Schafe, wovon zwei im Frühjahr trächtig wa-ren, so dass ich bei der Geburt zweier Lämmer dabeisein durfte. Ich besuchte sie fast täglich und erlebte, wie sie größer und größer wurden – ich fütterte sie, spielte mit ihnen ... Einmal lockte ich tatsächlich die ganze Herde auf unser Grundstück; bis in die Wohnstube hinein folgten sie mir, wo sie ihre Kaffeebohnen auf den Boden kullern ließen, worüber sich alle amüsierten. Eins von den Lämmern war ein Böckchen. Ich taufte es Toni.
Zu dieser Zeit, es war einige Wochen vor Ostern, war ich viel mit meinem Freund Karl Wassermann zusammen, so kam es, dass wir eines Tages in einem Geräteschup-pen auf dessen elterlichem Grundstück eine olivgrüne Holzkiste entdeckten. Sie war nicht verschlossen, und so stöberten wir neugierig in dem alten Wehrmachtskram, mit dem die Kiste angefüllt war, darunter ein paar Gasmasken, die unser besonderes Inte-resse fanden. Wir setzten jeder eine davon auf und hüpften eine Weile als Gespenster um die Kiste herum, bis Karl die Idee zu einem bösen Streich kam, vielleicht war es aber auch ich, der diesen hässlichen Einfall hatte – ich bin mir nicht sicher ... Jeden-falls, gleich in der Nähe wohnte eine Familie, mit deren Kindern wir hin und wieder zusammen spielten, darunter ein Mädchen von etwa drei Jahren. Die Kleine spielte zufällig allein auf dem Weg vor ihrem Haus, was uns animierte, sie ein bisschen zu erschrecken.
Wir forderten sie auf, uns zu begleiten. Erst wollte sie nicht, doch bei einigem Gut-zureden kam sie mehr oder weniger bereitwillig mit. (Die Masken hatten wir vorüber-gehend abgenommen und unter unserer Kleidung versteckt.) Wir strebten zu einer Stelle an einer nahegelegenen Bahnlinie, die hinter einem kleinen Wald außerhalb der Sicht der Häuser das Gelände einschnitt. Das Mädchen folgte uns in einigem Abstand, wobei es von Zeit zu Zeit stehen blieb, woraufhin wir jedes Mal mit Engelszungen auf es einredeten, bis es sich wieder in Bewegung setzte. Oberhalb der Bahngleise ange-kommen, kletterten Karl und ich fix ein oder zwei Meter die Böschung hinunter, wo-bei wir uns blitzschnell die Gasmasken aufzogen. Und wie aus dem Boden schlüpfen-de Kobolde, die Gesichter hinter den Masken versteckt und mit wilden Drohgebärden, tauchten wir einen Augenblick später vor dem Mädchen auf, das inzwischen herange-kommen war, und nun mit einem Aufschrei zurückwich.
Das arme Kind war zu Tode erschrocken. Und als sei dies nicht genug, verlangten wir auch noch, dass sie ihr Höschen auszog. Wir drohten ihr Schlimmes an, für den Fall, dass sie uns nicht gehorche:
„Los! Zieh dein Höschen aus, sonst holen wir den Schwarzen Mann, der bringt dich in die Hölle! ...“
Die Kleine war jedoch so verängstigt, dass sie gar nicht verstand, was wir von ihr verlangten. Sie begann zu weinen, erst leise, dann lauter und lauter, so dass sie mir mit einmal leid tat oder ich selbst es mit der Angst zu tun bekam oder beides vermutlich. Karl indes wollte sich damit nicht zufrieden geben, im Gegenteil wiederholte er unsere Forderung, worauf das Mädchen nur noch heftiger weinte. Die Situation wurde mir bald unerträglich, und so begann ich auf ihn einzureden, damit er von ihr ablasse:
„Komm Karl, es ist genug! Lass sie gehn! Wir werden Ärger kriegen, wenn sie uns erwischen ...“
Meine Worte verunsicherten ihn, und unterdessen er sich von ihr ab- und mir zu wandte, nutzte sie die Gelegenheit, uns zu entwischen. Darauf kam er zur Vernunft ...
Wochenlang saß mir die Angst im Nacken. Ich fürchtete, sie würde es ihren Eltern erzählen und dass man uns abholen und einsperren würde, was zum meinem Glück jedoch nicht eintraf. Niemand kam, uns abzuholen, nichts dergleichen geschah, doch gingen wir uns nach dieser Sache für einige Zeit aus dem Weg, Karl und ich.
Allzu lange währte die innere Einkehr jedoch nicht; kurz vor Ostern trafen wir uns wieder. Seit langem nämlich hatten wir uns vorgenommen, den Osterhasen auf die Probe zu stellen: Gab es ihn oder gab es ihn nicht? War er wirklich bloß eine Erfin-dung der Erwachsenen, wie wir vermuteten? Für Karl, der ein Jahr älter war als ich, war die Sache im Grunde klar: Ihm ging es allein darum, es mir und sich selbst zu beweisen. Meine Gefühle hingegen waren widersprüchlich. Was, wenn es ihn nun doch gab? fragte ich mich. Ich schämte mich für mein Misstrauen. War es nicht ge-mein, was wir vorhatten? Aber wenn es ihn wirklich nicht gab, und dafür sprach vie-les, ja alles beinahe, dann konnten wir den Alten eins auswischen: ihre Lüge aufde-cken.
Ein wunderschönes, prachtvolles Nest wollten wir ihm bauen, an dem er unter kei-nen Umständen vorübergehen konnte – wenn es ihn gab!
Letztlich wollte auch ich es wissen, und so gingen wir Karfreitag an die Arbeit. An der bewussten Bahnlinie, unweit der Stelle, wo wir das Mädchen hingelockt hatten, wo wir oft spielten und sonst kein Mensch hinkam, wo es um so prächtigeres Hasen-gelände gab – die schönsten Farne, Gräser, Moose, Blumen und Kräuter wuchsen dort – wunderbarer Ginster ... genau dort gruben wir eine kleine Höhle in die Böschung, die wir mit ausgesuchten Moosen auskleideten und mit Ornamenten aus weißen Ki-selsteinchen und Blüten verzierten. Wenn der Osterhase dieses wunderschöne Nest übersehen würde, dann gab es ihn nicht – das stand für uns fest.
Dann, Ostersonntag – Tag der Wahrheit.
Tante Hanne weilte mit Rainerlein, meinem um drei Jahre jüngeren Vetter, über die Feiertage bei uns zu Besuch. Wir kamen eben aus der Kirche. Auf dem Heimweg, kurz vor unserem Grundstück (rechts und links des Wegs war Weideland), machte Tante Hanne eine Entdeckung.
„Seht mal, was ich im Gras gefunden habe! Ein Osterei!“ rief sie, wobei sie ein bunt bemaltes Ei in der Luft schwenkte. „Das hat der Osterhase hier versteckt, vielleicht finden wir noch mehr. Rainerlein! Albert! Kommt schnell, helft mir suchen!“
Rainerlein, der begeistert krähte, ließ sich, da, wo er gerade stand, hinplumpsen und begann auf allen vieren durchs Gras zu krabbeln, um den Wegesrand abzusuchen.
„Ich hab’ auch eins! ...“, hörte man ihn wenig später aufgeregt rufen.
Das Ei triumphierend in die Luft haltend rannte er zu seiner Mutter, um es ihr zu zei-gen. Ich hielt mich derweil, den Überlegenen hervorkehrend, zurück, und sah dem Treiben der anderen spöttisch zu. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Kopf hoch erhoben, mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, so, wie ich es von Tante Mechthild kannte, wenn sie glaubte, mich bei einer Lüge ertappt zu haben, schlenderte ich hinter ihnen her.
Lass sie nur suchen, sagte ich mir.
Tante Hanne fand jetzt ein Schokoladenei ...
Auch Rainerlein fand eins ...
Sogar Tante Mechthild fand etwas im Gras versteckt ...
Zweifel begannen sich in mir zu regen. Wenn ich es auch weiterhin entschieden ab-lehnte zu glauben, der Osterhase hätte die Sachen versteckt, so hätte ich dennoch gern etwas davon abgehabt. Und so begann ich mich nach einer Weile entgegen meiner Überzeugung an der Suche zu beteiligen, wobei ich schließlich auch das eine oder andere zu Naschen fand.
Es gibt keinen Osterhasen! beharrte ich auf meinem Standpunkt, und konnte es kaum erwarten, den Beweis dafür zu erhalten. Nach dem Frühstück machte ich mich heim-lich davon und rannte, so schnell die Beine mich trugen, zur Bahnlinie, wo Karl be-reits auf mich wartete.
„Nichts drin ...“, sagte er, hämisch grinsend, wobei er die Hände rieb.
Um sicher zu sein, schaute ich selbst nach. Es war natürlich leer. Schade, dachte ich, so ein schönes Nest ...
Einer rechts, einer links neben der Grotte, lehnten wir rücklings an der steilen Bö-schung und sogen die schwachen Sonnenstrahlen in uns auf, die sich hin und wieder durch die aufgelockerte Wolkendecke stahlen.
„Und wenn er unser Nest bloß übersehen hat“, sagte ich mehr zu mir selbst als an Karl gerichtet.
„Quatsch! Er kann es nicht übersehen haben, weil es ihn nicht gibt!“ erwiderte er mit gespielter Verzweiflung. „Es gibt keinen Osterhasen! Ich weiß es schon seit letztem Jahr. Komm, lass uns gehn! Ich muss nach Hause, essen ...“
Sprach’s und machte sich auf den Weg.
Lustlos folgte ich ihm, und als wir uns später vor seinem Zuhause verabschiedeten und er mich fragte, ob wir uns den kommenden Dienstag treffen wollten, wich ich ihm aus.
„Ich weiß nicht ... mal sehn ... ich muss mich beeilen ...“
(Auch bei mir zu Hause warteten sie mit dem Essen ...)
Nach einigem Hin und Her trennten wir uns, ohne uns auf den Tag festzulegen. Ich war enttäuscht, und ich fühlte mich traurig. Viel lieber hätte ich es gesehen, wenn wir nicht recht behalten hätten und wir das Nest mit bunten Eiern und anderen Leckereien gefüllt vorgefunden hätten.
„Wo bleibst du denn?! Saupanz!“ empfing Großmutter mich mit teils gespieltem, teils echtem Vorwurf.
(Die anderen saßen bereits alle am Tisch.)
Saupanz: Omas Lieblingsbezeichnung für Kinder und Kindeskinder männlichen Ge-schlechts, die was immer auch ausgefressen hatten. Sie sagte es mit einer liebevollen Boshaftigkeit in der Stimme.
„Wo hast du dich so lange herumgetrieben?“
„Es gibt keinen Osterhasen!“ sagte ich trotzig.
„Waaas?! Was hör’ ich da?!“ ließ Tante Hanne sich daraufhin drohend vernehmen. „Es gibt keinen?! ...“
(Sie spielte die Empörte.)
Doch ehe sie noch mit ihrem Verhör beginnen konnte, schnitt Tante Mechthild ihr das Wort ab.
„MUTTER! KINDER! DAS ESSEN WIRD DOCH KALT!“ rief sie verärgert, und „komm Herr Jesu, sei unser Gast ...“, begann sie betont laut das Tischgebet zu spre-chen.
Tante Mechthild. Kaum hatte sie das Gebet beendet, begann sie mit vornehmem Ge-tue, doch nicht weniger gierig, das Essen in sich hineinzustopfen.
Der Osterhase war einstweilen in den Hintergrund gerückt, und so begann ich mein Essen zu modellieren. Ich machte es immer so: In schöner Regelmäßigkeit bearbeitete ich auf kunstvolle Weise die Speisen auf dem Teller, um anschließend Happen für Happen aus einem Haus, einem Acker, einem Gemäuer oder sonst etwas herauszuste-chen. Am liebsten war mir Kartoffelpüree mit Wirsinggemüse, daraus ließen sich die tollsten Landschaften herstellen. Salzkartoffeln knetete ich jedes Mal vorher zu Brei. Mich daran zu hindern hatte man irgendwann aufgegeben, schließlich aß ich meine Landschaften meistens auf, und allein darauf kam es an.
Am späten Vormittag des Ostermontag schließlich sind alle ums Radio versammelt und verfolgen ein Passionsspiel: das Leiden Christi. Oma steht währenddessen am Herd und kocht.
Mit Spannung verfolge ich das Geschehen, eine Mischung aus Kriminalhörspiel, Karl May und Heidi, das mir ein Wechselbad der Gefühle beschert: Aufregung – Rüh-rung – Ergriffenheit – Ärger – Wut ...
„Die Juden haben Jesus Christus getötet ...“, verkündet eine Stimme im Radio.
Tränen kullern über meine Wangen.
„Ist es wahr, Oma, haben die Juden Jesus getötet?“ frage ich ungläubig.
„Ja Kind, sie haben unseren Heiland umgebracht“, bestätigt Großmutter mit gequäl-tem Ernst in der Stimme.
Ich war fassungslos. Wie konnten sie nur? Was waren das nur für Barbaren, sagte ich mir, wie konnten sie Ihn, der ihnen doch so gut gewesen war, bloß umbringen ...
Dann ist das Essen fertig. Der Geruch, der sich in der Stube verbreitet, lässt ahnen, dass es etwas Leckeres geben wird. Die Nachbarn von Gegenüber hatten uns eine Waschschüssel voll mit Fleisch rübergeschickt – geschenkt!
Fleisch! Eine echte Rarität für uns, zu jener Zeit.
Alle saßen wir um den Tisch herum: Tante Mechthild, Oma, Tante Hanne, Rainer-lein und ich und schauten begehrlich auf den großen Teller mit dem gebratenen Fleisch, der dampfend in der Mitte stand.
„Komm Herr Jesu’ sei unser Gast“ ...
Artig warteten wir Kinder, bis das Tischgebet verklungen war und wir unsere Porti-on zugeteilt bekamen. Es gab gebratene Leber mit gerösteten Zwiebeln, Apfelmus und Salzkartoffeln, was den anderen sehr zu schmecken schien: ehrfürchtig über die Teller gebeugt, und unter Schmatzen, Besteckklappern und Kratzen auf den Tellern ließen sie ein ums andere Mmmh erklingen. Auch ich aß mit gutem Appetit, nachdem ich mein Essen in eine Landschaft verwandelt hatte. Und während ich gedankenverloren Stich um Stich davon abtrug, drang jäh Omas Stimme an mein Ohr:
„Weißt du, was du da für ein Fleisch isst, Albert?“
„Ja, Leber!“ erwiderte ich stolz, im Bewusstsein um mein spezielles Wissen über Fleischwaren im allgemeinen.
„Jaaa! Aber eine ganz besondere Leber“, betonte sie. „Die Koslowskys haben zu Os-tern ein Lamm geschlachtet: Toni. Es ist Toni“, fügte sie mit einem sarkastischen Lä-cheln hinzu.
Ich war entsetzt. Ich wollte es nicht glauben. Mein kleiner Freund Toni? Dabei hatte ich die Hälfte meiner Portion bereits gegessen. Es begann mich zu schütteln. Ich schluchzte. Tränen rollten mir das Gesicht hinab, tropften in den Teller, und der halb zerkaute Bissen, den ich eben noch genüsslich in den Mund geschoben hatte, fiel zu Boden.
Das war zuviel. Keinen Moment länger hätte ich es bei Tisch ausgehalten. Ich rannte hinaus, quer durch den Garten, in den Wald, der an unser Grundstück grenzte, und kletterte in mein Baumhaus, das ich dort eingerichtet hatte, wo ich mich meinem Kummer hingab – so jedenfalls könnte das Ende sich abgespielt haben.
Man hätte es dem Jungen gewiss nicht verübeln können, wenn er sich dementspre-chend verhalten hätte. Das Baumhaus existierte zumindest; aber ich bin mir nicht si-cher – wahrscheinlicher ist, dass ich bis nach dem Essen gewartet habe, bevor ich mich dorthin verzog. Vermutlich bin ich brav auf meinem Stuhl sitzen geblieben, und – womöglich habe ich sogar meinen Teller leergegessen, gehorsam, wie ich als Kind immer gewesen bin. Die Vorstellung, dass letztere Version zutreffend sein könnte, macht mich krank.
In der Erwartung, das eine oder andere zu finden, das ich für mein Buch verwerten könnte, durchforste ich ein altes Manuskript. Es dürfte an die zehn Jahre her sein, seit ich die Sachen geschrieben habe. Die Lektüre des gegenwärtigen Abschnitts versetzt mich in die Zeit meiner frühen Kindheit.
Es muss neunundvierzig oder fünfzig gewesen sein. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Zu jener Zeit lebte ich bei meiner Großmutter in Lembach auf dem Land. Die Nachbarn von Gegenüber hielten einige Schafe, wovon zwei im Frühjahr trächtig wa-ren, so dass ich bei der Geburt zweier Lämmer dabeisein durfte. Ich besuchte sie fast täglich und erlebte, wie sie größer und größer wurden – ich fütterte sie, spielte mit ihnen ... Einmal lockte ich tatsächlich die ganze Herde auf unser Grundstück; bis in die Wohnstube hinein folgten sie mir, wo sie ihre Kaffeebohnen auf den Boden kullern ließen, worüber sich alle amüsierten. Eins von den Lämmern war ein Böckchen. Ich taufte es Toni.
Zu dieser Zeit, es war einige Wochen vor Ostern, war ich viel mit meinem Freund Karl Wassermann zusammen, so kam es, dass wir eines Tages in einem Geräteschup-pen auf dessen elterlichem Grundstück eine olivgrüne Holzkiste entdeckten. Sie war nicht verschlossen, und so stöberten wir neugierig in dem alten Wehrmachtskram, mit dem die Kiste angefüllt war, darunter ein paar Gasmasken, die unser besonderes Inte-resse fanden. Wir setzten jeder eine davon auf und hüpften eine Weile als Gespenster um die Kiste herum, bis Karl die Idee zu einem bösen Streich kam, vielleicht war es aber auch ich, der diesen hässlichen Einfall hatte – ich bin mir nicht sicher ... Jeden-falls, gleich in der Nähe wohnte eine Familie, mit deren Kindern wir hin und wieder zusammen spielten, darunter ein Mädchen von etwa drei Jahren. Die Kleine spielte zufällig allein auf dem Weg vor ihrem Haus, was uns animierte, sie ein bisschen zu erschrecken.
Wir forderten sie auf, uns zu begleiten. Erst wollte sie nicht, doch bei einigem Gut-zureden kam sie mehr oder weniger bereitwillig mit. (Die Masken hatten wir vorüber-gehend abgenommen und unter unserer Kleidung versteckt.) Wir strebten zu einer Stelle an einer nahegelegenen Bahnlinie, die hinter einem kleinen Wald außerhalb der Sicht der Häuser das Gelände einschnitt. Das Mädchen folgte uns in einigem Abstand, wobei es von Zeit zu Zeit stehen blieb, woraufhin wir jedes Mal mit Engelszungen auf es einredeten, bis es sich wieder in Bewegung setzte. Oberhalb der Bahngleise ange-kommen, kletterten Karl und ich fix ein oder zwei Meter die Böschung hinunter, wo-bei wir uns blitzschnell die Gasmasken aufzogen. Und wie aus dem Boden schlüpfen-de Kobolde, die Gesichter hinter den Masken versteckt und mit wilden Drohgebärden, tauchten wir einen Augenblick später vor dem Mädchen auf, das inzwischen herange-kommen war, und nun mit einem Aufschrei zurückwich.
Das arme Kind war zu Tode erschrocken. Und als sei dies nicht genug, verlangten wir auch noch, dass sie ihr Höschen auszog. Wir drohten ihr Schlimmes an, für den Fall, dass sie uns nicht gehorche:
„Los! Zieh dein Höschen aus, sonst holen wir den Schwarzen Mann, der bringt dich in die Hölle! ...“
Die Kleine war jedoch so verängstigt, dass sie gar nicht verstand, was wir von ihr verlangten. Sie begann zu weinen, erst leise, dann lauter und lauter, so dass sie mir mit einmal leid tat oder ich selbst es mit der Angst zu tun bekam oder beides vermutlich. Karl indes wollte sich damit nicht zufrieden geben, im Gegenteil wiederholte er unsere Forderung, worauf das Mädchen nur noch heftiger weinte. Die Situation wurde mir bald unerträglich, und so begann ich auf ihn einzureden, damit er von ihr ablasse:
„Komm Karl, es ist genug! Lass sie gehn! Wir werden Ärger kriegen, wenn sie uns erwischen ...“
Meine Worte verunsicherten ihn, und unterdessen er sich von ihr ab- und mir zu wandte, nutzte sie die Gelegenheit, uns zu entwischen. Darauf kam er zur Vernunft ...
Wochenlang saß mir die Angst im Nacken. Ich fürchtete, sie würde es ihren Eltern erzählen und dass man uns abholen und einsperren würde, was zum meinem Glück jedoch nicht eintraf. Niemand kam, uns abzuholen, nichts dergleichen geschah, doch gingen wir uns nach dieser Sache für einige Zeit aus dem Weg, Karl und ich.
Allzu lange währte die innere Einkehr jedoch nicht; kurz vor Ostern trafen wir uns wieder. Seit langem nämlich hatten wir uns vorgenommen, den Osterhasen auf die Probe zu stellen: Gab es ihn oder gab es ihn nicht? War er wirklich bloß eine Erfin-dung der Erwachsenen, wie wir vermuteten? Für Karl, der ein Jahr älter war als ich, war die Sache im Grunde klar: Ihm ging es allein darum, es mir und sich selbst zu beweisen. Meine Gefühle hingegen waren widersprüchlich. Was, wenn es ihn nun doch gab? fragte ich mich. Ich schämte mich für mein Misstrauen. War es nicht ge-mein, was wir vorhatten? Aber wenn es ihn wirklich nicht gab, und dafür sprach vie-les, ja alles beinahe, dann konnten wir den Alten eins auswischen: ihre Lüge aufde-cken.
Ein wunderschönes, prachtvolles Nest wollten wir ihm bauen, an dem er unter kei-nen Umständen vorübergehen konnte – wenn es ihn gab!
Letztlich wollte auch ich es wissen, und so gingen wir Karfreitag an die Arbeit. An der bewussten Bahnlinie, unweit der Stelle, wo wir das Mädchen hingelockt hatten, wo wir oft spielten und sonst kein Mensch hinkam, wo es um so prächtigeres Hasen-gelände gab – die schönsten Farne, Gräser, Moose, Blumen und Kräuter wuchsen dort – wunderbarer Ginster ... genau dort gruben wir eine kleine Höhle in die Böschung, die wir mit ausgesuchten Moosen auskleideten und mit Ornamenten aus weißen Ki-selsteinchen und Blüten verzierten. Wenn der Osterhase dieses wunderschöne Nest übersehen würde, dann gab es ihn nicht – das stand für uns fest.
Dann, Ostersonntag – Tag der Wahrheit.
Tante Hanne weilte mit Rainerlein, meinem um drei Jahre jüngeren Vetter, über die Feiertage bei uns zu Besuch. Wir kamen eben aus der Kirche. Auf dem Heimweg, kurz vor unserem Grundstück (rechts und links des Wegs war Weideland), machte Tante Hanne eine Entdeckung.
„Seht mal, was ich im Gras gefunden habe! Ein Osterei!“ rief sie, wobei sie ein bunt bemaltes Ei in der Luft schwenkte. „Das hat der Osterhase hier versteckt, vielleicht finden wir noch mehr. Rainerlein! Albert! Kommt schnell, helft mir suchen!“
Rainerlein, der begeistert krähte, ließ sich, da, wo er gerade stand, hinplumpsen und begann auf allen vieren durchs Gras zu krabbeln, um den Wegesrand abzusuchen.
„Ich hab’ auch eins! ...“, hörte man ihn wenig später aufgeregt rufen.
Das Ei triumphierend in die Luft haltend rannte er zu seiner Mutter, um es ihr zu zei-gen. Ich hielt mich derweil, den Überlegenen hervorkehrend, zurück, und sah dem Treiben der anderen spöttisch zu. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, den Kopf hoch erhoben, mit hochgezogenen Augenbrauen und gerunzelter Stirn, so, wie ich es von Tante Mechthild kannte, wenn sie glaubte, mich bei einer Lüge ertappt zu haben, schlenderte ich hinter ihnen her.
Lass sie nur suchen, sagte ich mir.
Tante Hanne fand jetzt ein Schokoladenei ...
Auch Rainerlein fand eins ...
Sogar Tante Mechthild fand etwas im Gras versteckt ...
Zweifel begannen sich in mir zu regen. Wenn ich es auch weiterhin entschieden ab-lehnte zu glauben, der Osterhase hätte die Sachen versteckt, so hätte ich dennoch gern etwas davon abgehabt. Und so begann ich mich nach einer Weile entgegen meiner Überzeugung an der Suche zu beteiligen, wobei ich schließlich auch das eine oder andere zu Naschen fand.
Es gibt keinen Osterhasen! beharrte ich auf meinem Standpunkt, und konnte es kaum erwarten, den Beweis dafür zu erhalten. Nach dem Frühstück machte ich mich heim-lich davon und rannte, so schnell die Beine mich trugen, zur Bahnlinie, wo Karl be-reits auf mich wartete.
„Nichts drin ...“, sagte er, hämisch grinsend, wobei er die Hände rieb.
Um sicher zu sein, schaute ich selbst nach. Es war natürlich leer. Schade, dachte ich, so ein schönes Nest ...
Einer rechts, einer links neben der Grotte, lehnten wir rücklings an der steilen Bö-schung und sogen die schwachen Sonnenstrahlen in uns auf, die sich hin und wieder durch die aufgelockerte Wolkendecke stahlen.
„Und wenn er unser Nest bloß übersehen hat“, sagte ich mehr zu mir selbst als an Karl gerichtet.
„Quatsch! Er kann es nicht übersehen haben, weil es ihn nicht gibt!“ erwiderte er mit gespielter Verzweiflung. „Es gibt keinen Osterhasen! Ich weiß es schon seit letztem Jahr. Komm, lass uns gehn! Ich muss nach Hause, essen ...“
Sprach’s und machte sich auf den Weg.
Lustlos folgte ich ihm, und als wir uns später vor seinem Zuhause verabschiedeten und er mich fragte, ob wir uns den kommenden Dienstag treffen wollten, wich ich ihm aus.
„Ich weiß nicht ... mal sehn ... ich muss mich beeilen ...“
(Auch bei mir zu Hause warteten sie mit dem Essen ...)
Nach einigem Hin und Her trennten wir uns, ohne uns auf den Tag festzulegen. Ich war enttäuscht, und ich fühlte mich traurig. Viel lieber hätte ich es gesehen, wenn wir nicht recht behalten hätten und wir das Nest mit bunten Eiern und anderen Leckereien gefüllt vorgefunden hätten.
„Wo bleibst du denn?! Saupanz!“ empfing Großmutter mich mit teils gespieltem, teils echtem Vorwurf.
(Die anderen saßen bereits alle am Tisch.)
Saupanz: Omas Lieblingsbezeichnung für Kinder und Kindeskinder männlichen Ge-schlechts, die was immer auch ausgefressen hatten. Sie sagte es mit einer liebevollen Boshaftigkeit in der Stimme.
„Wo hast du dich so lange herumgetrieben?“
„Es gibt keinen Osterhasen!“ sagte ich trotzig.
„Waaas?! Was hör’ ich da?!“ ließ Tante Hanne sich daraufhin drohend vernehmen. „Es gibt keinen?! ...“
(Sie spielte die Empörte.)
Doch ehe sie noch mit ihrem Verhör beginnen konnte, schnitt Tante Mechthild ihr das Wort ab.
„MUTTER! KINDER! DAS ESSEN WIRD DOCH KALT!“ rief sie verärgert, und „komm Herr Jesu, sei unser Gast ...“, begann sie betont laut das Tischgebet zu spre-chen.
Tante Mechthild. Kaum hatte sie das Gebet beendet, begann sie mit vornehmem Ge-tue, doch nicht weniger gierig, das Essen in sich hineinzustopfen.
Der Osterhase war einstweilen in den Hintergrund gerückt, und so begann ich mein Essen zu modellieren. Ich machte es immer so: In schöner Regelmäßigkeit bearbeitete ich auf kunstvolle Weise die Speisen auf dem Teller, um anschließend Happen für Happen aus einem Haus, einem Acker, einem Gemäuer oder sonst etwas herauszuste-chen. Am liebsten war mir Kartoffelpüree mit Wirsinggemüse, daraus ließen sich die tollsten Landschaften herstellen. Salzkartoffeln knetete ich jedes Mal vorher zu Brei. Mich daran zu hindern hatte man irgendwann aufgegeben, schließlich aß ich meine Landschaften meistens auf, und allein darauf kam es an.
Am späten Vormittag des Ostermontag schließlich sind alle ums Radio versammelt und verfolgen ein Passionsspiel: das Leiden Christi. Oma steht währenddessen am Herd und kocht.
Mit Spannung verfolge ich das Geschehen, eine Mischung aus Kriminalhörspiel, Karl May und Heidi, das mir ein Wechselbad der Gefühle beschert: Aufregung – Rüh-rung – Ergriffenheit – Ärger – Wut ...
„Die Juden haben Jesus Christus getötet ...“, verkündet eine Stimme im Radio.
Tränen kullern über meine Wangen.
„Ist es wahr, Oma, haben die Juden Jesus getötet?“ frage ich ungläubig.
„Ja Kind, sie haben unseren Heiland umgebracht“, bestätigt Großmutter mit gequäl-tem Ernst in der Stimme.
Ich war fassungslos. Wie konnten sie nur? Was waren das nur für Barbaren, sagte ich mir, wie konnten sie Ihn, der ihnen doch so gut gewesen war, bloß umbringen ...
Dann ist das Essen fertig. Der Geruch, der sich in der Stube verbreitet, lässt ahnen, dass es etwas Leckeres geben wird. Die Nachbarn von Gegenüber hatten uns eine Waschschüssel voll mit Fleisch rübergeschickt – geschenkt!
Fleisch! Eine echte Rarität für uns, zu jener Zeit.
Alle saßen wir um den Tisch herum: Tante Mechthild, Oma, Tante Hanne, Rainer-lein und ich und schauten begehrlich auf den großen Teller mit dem gebratenen Fleisch, der dampfend in der Mitte stand.
„Komm Herr Jesu’ sei unser Gast“ ...
Artig warteten wir Kinder, bis das Tischgebet verklungen war und wir unsere Porti-on zugeteilt bekamen. Es gab gebratene Leber mit gerösteten Zwiebeln, Apfelmus und Salzkartoffeln, was den anderen sehr zu schmecken schien: ehrfürchtig über die Teller gebeugt, und unter Schmatzen, Besteckklappern und Kratzen auf den Tellern ließen sie ein ums andere Mmmh erklingen. Auch ich aß mit gutem Appetit, nachdem ich mein Essen in eine Landschaft verwandelt hatte. Und während ich gedankenverloren Stich um Stich davon abtrug, drang jäh Omas Stimme an mein Ohr:
„Weißt du, was du da für ein Fleisch isst, Albert?“
„Ja, Leber!“ erwiderte ich stolz, im Bewusstsein um mein spezielles Wissen über Fleischwaren im allgemeinen.
„Jaaa! Aber eine ganz besondere Leber“, betonte sie. „Die Koslowskys haben zu Os-tern ein Lamm geschlachtet: Toni. Es ist Toni“, fügte sie mit einem sarkastischen Lä-cheln hinzu.
Ich war entsetzt. Ich wollte es nicht glauben. Mein kleiner Freund Toni? Dabei hatte ich die Hälfte meiner Portion bereits gegessen. Es begann mich zu schütteln. Ich schluchzte. Tränen rollten mir das Gesicht hinab, tropften in den Teller, und der halb zerkaute Bissen, den ich eben noch genüsslich in den Mund geschoben hatte, fiel zu Boden.
Das war zuviel. Keinen Moment länger hätte ich es bei Tisch ausgehalten. Ich rannte hinaus, quer durch den Garten, in den Wald, der an unser Grundstück grenzte, und kletterte in mein Baumhaus, das ich dort eingerichtet hatte, wo ich mich meinem Kummer hingab – so jedenfalls könnte das Ende sich abgespielt haben.
Man hätte es dem Jungen gewiss nicht verübeln können, wenn er sich dementspre-chend verhalten hätte. Das Baumhaus existierte zumindest; aber ich bin mir nicht si-cher – wahrscheinlicher ist, dass ich bis nach dem Essen gewartet habe, bevor ich mich dorthin verzog. Vermutlich bin ich brav auf meinem Stuhl sitzen geblieben, und – womöglich habe ich sogar meinen Teller leergegessen, gehorsam, wie ich als Kind immer gewesen bin. Die Vorstellung, dass letztere Version zutreffend sein könnte, macht mich krank.