Nietzsche und die Christen
N. "hat sich deshalb auch nicht lange mit der lahmen Bestreitung der Existenz Gottes aufgehalten, die doch bloß an Zweifeln herumlaboriert, welche die Christen selber hegen, sondern sich gleich den Inhalt der gläubigen Vorstellungen zur Brust genommen.
Was Christen mit ihrem Verstand anstellen, hielt er für so ziemlich die niederste Art, seinen Geist zu betätigen, und sein Vergleich mit dem Willen, sich durch Drogen zu betäuben, liegt ja nicht ganz fern. Christen beherrschen den Kniff, in ihrem Verhältnis zur Welt, deren Unbill als einen eigens für sie erfundenen Prüfstein zurechtzulügen; so verwandeln sie sich das wirkliche Übel in ein erfundenes Gut:
„Wenn uns ein Übel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert: also durch ein Umdeuten des Übels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Änderung der Empfindung zu wirken, teils durch Änderung unseres Urteils, teils durch Erweckung einer Lust am Schmerz … Je mehr jemand dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, umso weniger wird er die Ursachen des Übels ins Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Narkotisierung, wie sie z.B. bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsterem Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, umso strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Übel ins Auge.“ (Menschliches, Allzumenschliches, 108)
Nun steht er da, der Christ, vor seinem Prüfstein, und darf sich ob seiner Verfehlungen auf die Brust schlagen:
„Es ist ein Kunstgriff des Christentums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung des Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. ,Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: Ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist‘, so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Verächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein wenig bei dem Satze: wir alle sind
einer Art.“ (Menschliches, Allzumenschliches, 117)
Der Übergang von der Selbsterniedrigung zur Selbstgerechtigkeit des Christen war Nietzsche also geläufig. Er liegt im
Bekenntnis zur eigenen Sündhaftigkeit, mit dem sich Christen auf dem richtigen Pfad wissen und sich über den Rest der Menschheit erheben."
http://www.wissenschaftskritik.de/friedrich-nietzsche/