G
grübelmonster
Guest
„Mittendrin“
(Betrachtungen über Menschsein und Andersdenken)
Wenn du etwas über Menschen an sich erfahren möchtest, geh’ in einer Großstadt zum Bahnhof.
Seitlich vom Haupteingang der Taxen-Stand. Frauen und Männer verschiedener Nationen sehen zumeist nicht fröhlich aus, wie sie hinter dem Steuer in einer Zeitung lesen oder bis zum Auftauchen eines Fahrgastes vor sich hin dösen. Ein paar der Fahrer lehnen an den Autos und unterhalten sich -, lachen sieht man sie nicht. Sie stehen alle im Konkurrenzkampf untereinander: wann bin ich endlich an der Spitze ... der Taxi-Schlange?
Je nach Tageszeit hast du an den drei Türen des Haupteingangs manchmal Schwierigkeiten, hindurchgehen zu können. Mütter mit Kindern halten andere auf, hektische Herren mit kleinen eckigen Köfferchen sind in unfreundlicher Termin-Eile. Jugendliche mit Rucksäcken suchen auf einer Stadtkarte nach der Jugendherberge. Paare giften sich an. Paare strahlen sich an. Manche Paare haben alle Zeit der Welt auf ihrer Hochzeitsreise. Manche Paare eilen in großem Abstand zueinander zum Scheidungsanwalt. Da ist ein Herr mit einem Stockschirm, ist ein Kind mit einem Lolli, ist eine junge Frau mit einem Handy am Ohr.
Mittendrin bist du.
Stell’ dich in der weitläufigen Bahnhofshalle irgendwohin. An den Imbiß-Ständen kann man die Hungrigen leicht von den Fressern unterscheiden. Man sieht dicke und sehr dicke Menschen und dünne – und befindet: die Statistiken stimmen gar nicht, denn nicht jeder Dritte hier ist dick, nicht einmal jeder zehnte. Den dünnen Menschen kann man manchmal ansehen, weshalb sie nicht zu den dicken gehören. Da sind schlecht gekleidete Arme, die die Clochards am Stadtbrunnen besuchen wollen, und da sind schlanke Schönheiten, die für ihr Aussehen die Qual des Hungerns mehr oder weniger gern ertragen. Leicht geneigt ist man, einer Putzkolonne 1-Euro-Jobs zu unterstellen -: man muß einfach nur in die Gesichter sehen. Kinder weinen vor Anstrengung. Kinder laufen den Großeltern in die Arme, für die sie diese Reise angetreten hatten. Mütter sind stolz auf ihre Kinder, die Großeltern strahlen. Es gibt junge Mütter und alte, freundliche Väter und mürrische. Und es gibt Polizeistreifen, denen man Versnobtheit unterstellen möchte, aber vielleicht haben sie ja auch nur selber Angst vor Zwischenfällen. Hast du weißes Haar, zeigen sie dir freundlich den Weg. Bist du von schwarzer Hautfarbe, wackeln sie mit dem Unterkörper, um auf ihren Schlagstock aufmerksam zu machen, den sie – scheinbar unerreichbar – hinten tragen. – Ja, und dann sind da noch die Menschen mit den Masken, in deren undurchdringlicher Mimik ein Menschsein nicht zu lesen ist. Hektik überall. Die Atmosphäre in einer Bahnhofshalle ist schnell-lebig.
Mittendrin bist du.
Suchst du im Bahnhof so etwas wie Ruhe, geh’ jetzt, und stell’ dich auf einen Bahnsteig. Dort rennt niemand, dort schreit niemand. Dort schluckt zumeist niemand mehr hastig erworbenes fastfood, sondern kramt vielleicht nur die Stullen aus dem Gepäck, die ein fürsorglicher Angehöriger dort hineingesteckt hat. Traurige sehen sich an, die sich trennen müssen. Fröhliche sehen sich an, die eine gemeinsame Reise antreten. Brummige schubsen dich vom Fahrplan weg, weil sie nah herantreten wollen, um ihre Brille nicht suchen zu müssen. Vielleicht fragt dich einer, der unter der hoch hängenden Bahnhofs-Uhr steht und sie somit nicht sehen kann, nach der Zeit. Vielleicht auch sieht dich einer hilflos an, ob du ihm beim Einsteigen mit seinem Gepäck helfen würdest. Vielleicht meint sogar einer, dich zu kennen und starrt herüber. – Dann kündigt der Lautsprecher die Einfahrt eines Zuges an und manche Reisende formieren sich an der Bahnsteig-Kante, in vorderster Reihe die chronischen Drängler und die, die keinen Sitzplatz gebucht hatten. Andere treten in den Hintergrund, sehen seufzend auf ihre Armbanduhr und wirken resigniert oder ungeduldig. Der kommt, ist noch nicht ihr Zug.
Und mittendrin bist du.
Ein Zug fährt ein: lautlos, schnittig, silbrig, ... arrogant. „Achtung an der Bahnsteigkante.“
Dem, der sich vor den Zug werfen will, ist die Warnung gleichgültig. Die meisten anderen wissen, daß kein zischender Dampf von der Lokomotive her einen mehr verbrühen kann und daß die sorgfältig metall-verkleideten Räder kein Öl mehr auf den Bahnsteig spritzen. Es ist ja jetzt „jetzt“ und nicht mehr „früher“. Denen also ist die Lautsprecher-Warnung ebenso gleichgültig. Letzte Küsse, letzte Ermahnungen, letzte Rufe. Man möchte winken, sieht sich selbst in den spiegelnden Fenstern des Zuges, nicht aber den, dem man einen letzten Gruß mitgeben möchte -, die Hand fällt wieder herunter. Ob er wohl einen Platz gefunden hat? Gute Reise! Gedanken hin, Gedanken her. Von hier nach da, von dort nach hier. Sogar noch, wenn der Zug in der Ferne nicht mehr sichtbar ist. Sogar noch morgen. Vielleicht jeden Tag. Vielleicht immer.
Und mittendrin bist du.
Den Mann mit der roten Mütze und der Trillerpfeife gibt es immer noch. Es gibt Menschen mit blondem Haar und welche mit weißem. Da werden draedlocks von kleinen bunten Kappen verdeckt, Glatzen von Schlägermützen und Religions-Zugehörigkeiten von Kopftüchern. Ein Schal kann Wärme-Spender sein oder Zier. Manche Mäntel sind lang, andere tragen nur second-hand. Alte Frauen haben keine Scheu, ihre Pelze anzuziehen. Tierschützern sind Pelze ein Dorn im Auge, anderen alten Frauen sind sie jetzt zu schwer für die ausgeleierten Schultern. Ist man mit Schmuck behangen, sollte man auf die Warnungen vor Taschendieben hören. Auch die Menschen in den Hungerländern haben Schmuck, aber doch keine Preziosen. Wer eines Lederkoffers stolzer Besitzer ist, muß dafür um so schwerer tragen. Dir fällt dein Vater ein und was er erzählte: daß sie ihre Schulbücher in Taschentücher eingeknüpft zum Unterricht trugen. Was du nicht kennst, kannst du nicht vermissen. Aber auch nicht alles, was du kennst, kannst du besitzen. - Auf dem Bahnsteig sind wieder andere Reisende hinzugekommen und werden zu Wartenden.
Und mittendrin bist du.
Du bist aber kein Reisender mehr wie früher - mit Koffer oder Tasche und einem Ziel. Das Ziel ist längst erreicht -, das Ende aller Reisen, aller Irr- und Umwege, aller Geisterbahnen, Kurven und Geradlinigkeiten. Du stehst mitten im Lebendigen in einem Bahnhof, die Vollendung allen Suchens vor Augen, und betrachtest das Menschsein jetzt als Andersdenkender: wenn die Reisen deines Lebens beendet sind, mußt du Mensch geworden sein. Dann bleibst du mittendrin.
(Betrachtungen über Menschsein und Andersdenken)
Wenn du etwas über Menschen an sich erfahren möchtest, geh’ in einer Großstadt zum Bahnhof.
Seitlich vom Haupteingang der Taxen-Stand. Frauen und Männer verschiedener Nationen sehen zumeist nicht fröhlich aus, wie sie hinter dem Steuer in einer Zeitung lesen oder bis zum Auftauchen eines Fahrgastes vor sich hin dösen. Ein paar der Fahrer lehnen an den Autos und unterhalten sich -, lachen sieht man sie nicht. Sie stehen alle im Konkurrenzkampf untereinander: wann bin ich endlich an der Spitze ... der Taxi-Schlange?
Je nach Tageszeit hast du an den drei Türen des Haupteingangs manchmal Schwierigkeiten, hindurchgehen zu können. Mütter mit Kindern halten andere auf, hektische Herren mit kleinen eckigen Köfferchen sind in unfreundlicher Termin-Eile. Jugendliche mit Rucksäcken suchen auf einer Stadtkarte nach der Jugendherberge. Paare giften sich an. Paare strahlen sich an. Manche Paare haben alle Zeit der Welt auf ihrer Hochzeitsreise. Manche Paare eilen in großem Abstand zueinander zum Scheidungsanwalt. Da ist ein Herr mit einem Stockschirm, ist ein Kind mit einem Lolli, ist eine junge Frau mit einem Handy am Ohr.
Mittendrin bist du.
Stell’ dich in der weitläufigen Bahnhofshalle irgendwohin. An den Imbiß-Ständen kann man die Hungrigen leicht von den Fressern unterscheiden. Man sieht dicke und sehr dicke Menschen und dünne – und befindet: die Statistiken stimmen gar nicht, denn nicht jeder Dritte hier ist dick, nicht einmal jeder zehnte. Den dünnen Menschen kann man manchmal ansehen, weshalb sie nicht zu den dicken gehören. Da sind schlecht gekleidete Arme, die die Clochards am Stadtbrunnen besuchen wollen, und da sind schlanke Schönheiten, die für ihr Aussehen die Qual des Hungerns mehr oder weniger gern ertragen. Leicht geneigt ist man, einer Putzkolonne 1-Euro-Jobs zu unterstellen -: man muß einfach nur in die Gesichter sehen. Kinder weinen vor Anstrengung. Kinder laufen den Großeltern in die Arme, für die sie diese Reise angetreten hatten. Mütter sind stolz auf ihre Kinder, die Großeltern strahlen. Es gibt junge Mütter und alte, freundliche Väter und mürrische. Und es gibt Polizeistreifen, denen man Versnobtheit unterstellen möchte, aber vielleicht haben sie ja auch nur selber Angst vor Zwischenfällen. Hast du weißes Haar, zeigen sie dir freundlich den Weg. Bist du von schwarzer Hautfarbe, wackeln sie mit dem Unterkörper, um auf ihren Schlagstock aufmerksam zu machen, den sie – scheinbar unerreichbar – hinten tragen. – Ja, und dann sind da noch die Menschen mit den Masken, in deren undurchdringlicher Mimik ein Menschsein nicht zu lesen ist. Hektik überall. Die Atmosphäre in einer Bahnhofshalle ist schnell-lebig.
Mittendrin bist du.
Suchst du im Bahnhof so etwas wie Ruhe, geh’ jetzt, und stell’ dich auf einen Bahnsteig. Dort rennt niemand, dort schreit niemand. Dort schluckt zumeist niemand mehr hastig erworbenes fastfood, sondern kramt vielleicht nur die Stullen aus dem Gepäck, die ein fürsorglicher Angehöriger dort hineingesteckt hat. Traurige sehen sich an, die sich trennen müssen. Fröhliche sehen sich an, die eine gemeinsame Reise antreten. Brummige schubsen dich vom Fahrplan weg, weil sie nah herantreten wollen, um ihre Brille nicht suchen zu müssen. Vielleicht fragt dich einer, der unter der hoch hängenden Bahnhofs-Uhr steht und sie somit nicht sehen kann, nach der Zeit. Vielleicht auch sieht dich einer hilflos an, ob du ihm beim Einsteigen mit seinem Gepäck helfen würdest. Vielleicht meint sogar einer, dich zu kennen und starrt herüber. – Dann kündigt der Lautsprecher die Einfahrt eines Zuges an und manche Reisende formieren sich an der Bahnsteig-Kante, in vorderster Reihe die chronischen Drängler und die, die keinen Sitzplatz gebucht hatten. Andere treten in den Hintergrund, sehen seufzend auf ihre Armbanduhr und wirken resigniert oder ungeduldig. Der kommt, ist noch nicht ihr Zug.
Und mittendrin bist du.
Ein Zug fährt ein: lautlos, schnittig, silbrig, ... arrogant. „Achtung an der Bahnsteigkante.“
Dem, der sich vor den Zug werfen will, ist die Warnung gleichgültig. Die meisten anderen wissen, daß kein zischender Dampf von der Lokomotive her einen mehr verbrühen kann und daß die sorgfältig metall-verkleideten Räder kein Öl mehr auf den Bahnsteig spritzen. Es ist ja jetzt „jetzt“ und nicht mehr „früher“. Denen also ist die Lautsprecher-Warnung ebenso gleichgültig. Letzte Küsse, letzte Ermahnungen, letzte Rufe. Man möchte winken, sieht sich selbst in den spiegelnden Fenstern des Zuges, nicht aber den, dem man einen letzten Gruß mitgeben möchte -, die Hand fällt wieder herunter. Ob er wohl einen Platz gefunden hat? Gute Reise! Gedanken hin, Gedanken her. Von hier nach da, von dort nach hier. Sogar noch, wenn der Zug in der Ferne nicht mehr sichtbar ist. Sogar noch morgen. Vielleicht jeden Tag. Vielleicht immer.
Und mittendrin bist du.
Den Mann mit der roten Mütze und der Trillerpfeife gibt es immer noch. Es gibt Menschen mit blondem Haar und welche mit weißem. Da werden draedlocks von kleinen bunten Kappen verdeckt, Glatzen von Schlägermützen und Religions-Zugehörigkeiten von Kopftüchern. Ein Schal kann Wärme-Spender sein oder Zier. Manche Mäntel sind lang, andere tragen nur second-hand. Alte Frauen haben keine Scheu, ihre Pelze anzuziehen. Tierschützern sind Pelze ein Dorn im Auge, anderen alten Frauen sind sie jetzt zu schwer für die ausgeleierten Schultern. Ist man mit Schmuck behangen, sollte man auf die Warnungen vor Taschendieben hören. Auch die Menschen in den Hungerländern haben Schmuck, aber doch keine Preziosen. Wer eines Lederkoffers stolzer Besitzer ist, muß dafür um so schwerer tragen. Dir fällt dein Vater ein und was er erzählte: daß sie ihre Schulbücher in Taschentücher eingeknüpft zum Unterricht trugen. Was du nicht kennst, kannst du nicht vermissen. Aber auch nicht alles, was du kennst, kannst du besitzen. - Auf dem Bahnsteig sind wieder andere Reisende hinzugekommen und werden zu Wartenden.
Und mittendrin bist du.
Du bist aber kein Reisender mehr wie früher - mit Koffer oder Tasche und einem Ziel. Das Ziel ist längst erreicht -, das Ende aller Reisen, aller Irr- und Umwege, aller Geisterbahnen, Kurven und Geradlinigkeiten. Du stehst mitten im Lebendigen in einem Bahnhof, die Vollendung allen Suchens vor Augen, und betrachtest das Menschsein jetzt als Andersdenkender: wenn die Reisen deines Lebens beendet sind, mußt du Mensch geworden sein. Dann bleibst du mittendrin.