AW: Nacht- /Nachgedanken
Memorandum - Reisebericht von West nach Ost über eine Republikflucht
Dstdt., 16.10.63
Meine Lieben !
Ja, ja, ich weiß es wird höchste Zeit. Ihr müßt schon entschuldigen,
daß ich Euch so lange warten ließ. Hatte aber in der letzten Zeit
auch so meinen Fitz. Rosi hatte ihren Willen durchgesetzt und
war noch mit an die See gefahren. Es war für dies Jahr die
letzte Fahrt. Ich habe sie schon ausgelacht, als sie mir erzählt,
daß sie zwei Schlüpfer und drei Hemden angezogen hätte. Jetzt
ist sie froh, daß sie wieder bei mir ist. Jetzt schläft sie bei
Gretchen. Ich hoffe aber, daß sie bald bei mir schlafen kann.
Offen gesagt, etwas Ärger ich doch immer mal mit ihr.
Erzählt sie mir doch in aller Seelenruhe, daß sie ihren
schönen Rollkragenpullover hat hängen lassen und tröstet
mich, daß er sowieso zerrissen wäre. Was blieb mir
übrig. Ich kaufte ihr einen neuen. Sie meinte sie
wäre gestraft genug, sie hätte die letztem zwei Tage
und Nächte ganz schön gefroren. Dann war sie auch sooo
dumm und legt sich stundenlang an den Strand
und sieht fünf Fischern zu. Sie meint es wären
nicht mehr als zwanzig Meter gewesen. Daß sie dabei
völlig durchnäßt gewesen wäre, hätte sie gar nicht gemerkt.
Ich bin nur froh, daß sie sich nicht erkältet hat. Auf
dem Heimwege, sie ist mit dem Auto ins Heim gefahren,
haben ihr die Heimleiter einen Trainingsanzug mitgebracht.
Soll einer sich da nicht noch aufregen und da lacht sie
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sie obendrein noch so verschmitzt. Und eben spielt man im Radio
"Das gibst nur einmal, das kommt nicht wieder". Ja, ja die Jugend.
Eine Beruhigung habe ich. Wie ich sie fragte, ob noch einmal so einen
dumen Streich machen wollte, wurde sie doch nachdenklich
und meinte, daß sie es sich überlegen würde. Aber der schöne
Hund und die großen Netze hatten es ihr angetan. Wißt
Ihr noch, wie der Blitz den Spitzbub im Fang hatte.
Und da wäre ich mit meinem Ärger fertig. Ihren Aufsatz
über ihr schönstes Ferienerlebnis möchte ich kaum glauben.
Doch auch muß ich noch schreiben, wie ärgerlich sie sein kann.
Bekommt sie so eine schöne Nagelschere geschenkt und nur
weil sie angeblich nicht schneidet, wirft sie diese ein-
fach fort. Und da soll mein erbsengroßes Magen-
geschwür heilen. Dies Mal brauche ich wenigstens
nicht im Bett liegen. Bekomme sehr gute Tabletten
und habe fünf Spritzen in die Blutbahn bekommen
und das alles mit 85 Jahren. Es geht aber schon
viel besser. Schmerzen habe ich nicht mehr. Nach-
mittags machen wir immer mal einen Spaziergang
in den Wald. Ihre Mutti geht ja noch ins Büro.
Am Freitag hatte man Rolf eine neue Stelle an-
geboten. Wenn der Prokurist nicht bei mir in die
Wohnung gekommen wäre, ich würde es nicht glauben.
Er bot ihm vier Mark, wenn das seine Schwäger
erfahren. Er hätte auch am Montag (auch) gleich
anfangen können, fängt aber erst am kommenden
Montag an. Nun ich gönne es ihm. Da können
sich sein Eltern auch bald eine Wohnung leisten.
Und nun zu Euch, wie geht es? Hoffentlich
seid Ihr wohlauf. Wenn man so jung ist,
geht doch alles leichter. Bei uns wird es so langsam
Herbst und kühl. Schreibt mir nur auch wieder
einmal. Ich lasse Euch nicht wieder so lange warten.
Bleibt schön gesund und seid recht herzlichst gegrüßt von
Eurer Tante Olga
Wortwörtlich wiedergegeben