eric_flausen
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Chopin hat mich gerettet!
Mit 38 Jahren war Alice Sommer längst eine gefeierte Pianistin. Es war Winter 1941, als sie, ihr vierjähriger Sohn, ihr Mann und ihre Mutter, die ganze Familie einfach weggeschickt wurden. Abkommandiert ins verbrecherische Verderben der Nazis. Ein Wiedersehen gab es nur mit Ihrem Sohn.
Alice Sommer erzählt: Wir mußten unsere Sachen packen, als plötzlich die Türe aufgeht, die "lieben tschechischen Nachbarn“ eintreten und "ohne von uns überhaupt Notiz zu nehmen", die Wohnung leer räumen, Teppiche, Bilder, Möbel, einfach alles, "für sie waren wir schon tot". Wenig später kommt vom Stockwerk darüber das Ehepaar Herrmann, er deutscher Offizier und sagt: "Frau Sommer, wir wissen nicht, was wir Ihnen in diesem Augenblick sagen sollen. Hoffentlich kommen Sie zurück". Da verschlägt es Alice Sommer auch heute noch die Sprache: "Das waren Menschen, einfach warmherzige Menschen; wunderbar."
Damals, im Ghetto Theresienstadt gerät Alice zum ersten Mal in ihrem Leben aus der Fassung. Nichts und niemand kann sie aus der schrecklichen Depression reißen. Alice ist wie taub. "Der Tiefpunkt meines Lebens", sagt sie, "doch plötzlich hatte ich den rettenden Gedanken, die Stelle in der Stadt könnte ich heute noch auf den Meter genau bezeichnen". Sie muß da durch, raus aus dem fürchterlichen Tunnel, sie muß sich etwas Gigantisches aufhalsen, das vielleicht sogar über ihre Kräfte gehen kann: Sie will die 24 Etüden von Frédéric Chopin einstudieren, üben, üben, üben.
Aber die Etüden von Chopin sind so mit spieltechnischen Tücken und Teufeleien gespickt, dass selbst Arthur Rubinstein davon die Finger ließ – und ausgerechnet die zarte Alice will diesen pianistischen Koloss einstudieren? Sie stürzt sich auf die Noten, Tag für Tag, Woche für Woche. Alice Sommer packt es, das ganze Arsenal klavieristischer Folterei.
"Meine Vision ist wahr geworden; was ich erhofft hatte, ist passiert; diese Etüden haben mir das Leben gerettet." Am 26. November 2003 ist Alice Sommer 100 Jahre alt geworden. Dreimal die Woche geht sie auf die Universität und trifft sich mit jüngeren Leuten, die so um die 60, 70 und 80 Jahre jung sind. Montags steht Geschichte auf dem Plan, dienstags Philosophie und donnerstags das Alte Testament. Bis vor zwei Jahren ist sie (mit 98) sogar noch jeden Tag schwimmen gegangen.
"Ich bin dankbar", sagt Alice Sommer immer wieder, "ich beklage mich nie." Und: "Ich bin einer der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten". Das sagt ein Mensch, der immerhin das Martyrium des Lagers Theresienstadt durchlitten, die Mutter, Mann, zahllose Verwandte und Freunde durch die Nazis verloren hat. "Nie bin ich so glücklich gewesen wie jetzt", sagt sie heute "das Alter ist herrlich, weil man anspruchslos ist, reiche Erfahrungen hat, Ruhe, Zeit und, über allem, die Musik."
Anmerkung
Das war ein kleiner Ausflug zwischendurch, passend zum Thema, "Ist GLÜCK ERLERNBAR?" Die Geschichtsdaten sind stark verkürzt wiedergegeben. Der nächste Beitrag handelt mit Kapitel 4 vom formbaren Gehirn. Literatur: "Chopin hat mich gerettet!", Spiegel 52/2003.
Mit 38 Jahren war Alice Sommer längst eine gefeierte Pianistin. Es war Winter 1941, als sie, ihr vierjähriger Sohn, ihr Mann und ihre Mutter, die ganze Familie einfach weggeschickt wurden. Abkommandiert ins verbrecherische Verderben der Nazis. Ein Wiedersehen gab es nur mit Ihrem Sohn.
Alice Sommer erzählt: Wir mußten unsere Sachen packen, als plötzlich die Türe aufgeht, die "lieben tschechischen Nachbarn“ eintreten und "ohne von uns überhaupt Notiz zu nehmen", die Wohnung leer räumen, Teppiche, Bilder, Möbel, einfach alles, "für sie waren wir schon tot". Wenig später kommt vom Stockwerk darüber das Ehepaar Herrmann, er deutscher Offizier und sagt: "Frau Sommer, wir wissen nicht, was wir Ihnen in diesem Augenblick sagen sollen. Hoffentlich kommen Sie zurück". Da verschlägt es Alice Sommer auch heute noch die Sprache: "Das waren Menschen, einfach warmherzige Menschen; wunderbar."
Damals, im Ghetto Theresienstadt gerät Alice zum ersten Mal in ihrem Leben aus der Fassung. Nichts und niemand kann sie aus der schrecklichen Depression reißen. Alice ist wie taub. "Der Tiefpunkt meines Lebens", sagt sie, "doch plötzlich hatte ich den rettenden Gedanken, die Stelle in der Stadt könnte ich heute noch auf den Meter genau bezeichnen". Sie muß da durch, raus aus dem fürchterlichen Tunnel, sie muß sich etwas Gigantisches aufhalsen, das vielleicht sogar über ihre Kräfte gehen kann: Sie will die 24 Etüden von Frédéric Chopin einstudieren, üben, üben, üben.
Aber die Etüden von Chopin sind so mit spieltechnischen Tücken und Teufeleien gespickt, dass selbst Arthur Rubinstein davon die Finger ließ – und ausgerechnet die zarte Alice will diesen pianistischen Koloss einstudieren? Sie stürzt sich auf die Noten, Tag für Tag, Woche für Woche. Alice Sommer packt es, das ganze Arsenal klavieristischer Folterei.
"Meine Vision ist wahr geworden; was ich erhofft hatte, ist passiert; diese Etüden haben mir das Leben gerettet." Am 26. November 2003 ist Alice Sommer 100 Jahre alt geworden. Dreimal die Woche geht sie auf die Universität und trifft sich mit jüngeren Leuten, die so um die 60, 70 und 80 Jahre jung sind. Montags steht Geschichte auf dem Plan, dienstags Philosophie und donnerstags das Alte Testament. Bis vor zwei Jahren ist sie (mit 98) sogar noch jeden Tag schwimmen gegangen.
"Ich bin dankbar", sagt Alice Sommer immer wieder, "ich beklage mich nie." Und: "Ich bin einer der glücklichsten Menschen auf diesem Planeten". Das sagt ein Mensch, der immerhin das Martyrium des Lagers Theresienstadt durchlitten, die Mutter, Mann, zahllose Verwandte und Freunde durch die Nazis verloren hat. "Nie bin ich so glücklich gewesen wie jetzt", sagt sie heute "das Alter ist herrlich, weil man anspruchslos ist, reiche Erfahrungen hat, Ruhe, Zeit und, über allem, die Musik."
Anmerkung
Das war ein kleiner Ausflug zwischendurch, passend zum Thema, "Ist GLÜCK ERLERNBAR?" Die Geschichtsdaten sind stark verkürzt wiedergegeben. Der nächste Beitrag handelt mit Kapitel 4 vom formbaren Gehirn. Literatur: "Chopin hat mich gerettet!", Spiegel 52/2003.