maler76
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Die Camäleon-Dame
Buchtipp von maler76
Ein Camäleon kann seine Farbe blitzschnell wechseln, wie mitunter auch ein Mensch, besonders in Gefahrensituationen. Das dient der Tarnung und der Kommunikation mit Artgenossen. Was die Echse vom Menschen unterscheidet - sie ist im Aussterben begriffen. In der menschlichen Gesellschaft aber ist das Camäleon stark im Kommen. Wer hätte dies nicht schon - auch an sich selbst - beobachtet. Brisant wird die Sache nur, wenn der Farbwechsel, oder auch Gesinnungswechsel, bei der Gattung Mensch aus politischen Gründen erfolgt. Bei Leuten, die das Gesellschaftsschiff zu steuern haben, denn bei dieser charakterlichen Schwankungsbereitschaft weiß man nie so genau, wohin die Reise gehen soll.
Zwei Bundesbürger haben so einer markanten Persönlichkeit mit eben dieser Perfektion des Standpunktwechsels und des irritierenden Schwadronierens, des Lavierens zwischen allen Fronten und des ewigen gewinnenden Lächelns mit jedermann Namen und Gesicht gegeben. Der Titel: „Das erste Leben der Angela M.“ Die Autoren: Ralf Georg Reuth, 1952 in Oberfranken geboren, studierte Geschichte sowie Germanistik und promovierte 1983 über Hitlers Strategie. Günther Lachmann wurde 1961 in Papenburg geboren. Sein Studium galt der Vokswirtschaft. Er ist verantwortlicher Redakteur der WELT-Gruppe in Berlin.
Das fängt in dem 336 Seiten zählenden Buch interessant an: Das Autoren-Team überrascht die Leser mit einer nicht gerade löblichen Einschätzung: Sie sei sehr zurückhaltend, wenn es um ihre inneren Befindlichkeiten gehe, verschlossen, um nicht zu sagen verschwiegen. Bei der Schilderung des nur über 20 Jahre zurückliegenden Geschehens bleibt sie „vage, ganz so, als seien die damals handelnden Personen bis heute in einem dichten Nebel verborgen“. (S. 9) „Bis heute rätseln Zeitgeschichtler und Journalisten über ihr Weltbild, ihre Antriebskräfte, ihre Ziele und ihre Unnahbarkeit, die sie, die doch ganz oben angekommen ist, immer noch umgibt.“ So zitieren Reuth und Lachmann die „Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.12.2004. (S. 11) Allerdings: Sie sei immer gegen den Sozialismus gewesen, sie habe schon immer die staatliche Einheit und die soziale Marktwirtschaft „im Blick“ gehabt. So nährte sich „die Legende von der patriotischen Pfarrerstochter, die in der Wende auszog, um mitzuhelfen, die gespaltene Nation zusammenzufügen“. (S. 285)
Welch ein Frontenwechsel der Angela M.! Von einer engagierten FDJlerin, von der Sekretärin für Agitation und Propaganda zu einer marktkonformen Staatenlenkerin! Steckt dahinter nur ein klatblütiges Kalkül, mit dem Strom der Zeit zu schwimmen, ganz oben sein zu wollen? Antworten finden auch die beiden Autoren nicht, denn die Merkel beherrsche die Kunst, „sich nicht festzulegen, nichts zu sagen“ und sie habe die Fähigkeit „eine Maske zu tragen“. (S. 14) So bleibt nur übrig festzustellen, sie habe sich dem Zeitgeist angepasst, damals wie heute.
Statt ihrer basteln die Autoren an unterbelichteten gesellschaftlichen Tatsachen und Zuständen, die für eine frühe Absage an den Sozialismus bei der DDR-Bürgerin herhalten muss. Bienenfleißig quetschen sie Augenzeugen aus, wühlen und schnüffeln wie Spürhunde in Stasi-Akten. Ihr „bewährtes“ Angriffsziel für Einäugige: Das Verhältnis von Staat und Kirche. Sie erspähen aus der Froschperspektive – das ist ja nichts Neues - ,dass die Stasi überall war. Sie entwerfen ein DDR-Bild - obwohl sie dort nicht groß geworden sind - , das aus der Manipulationskiste von BILD zu stammen scheint. Haben die Autoren Angela Merkels Leben lediglich dazu benutzt, um wiederholt auf die einstige DDR mit ihren großen Visionen für ein friedliches Dasein einzudreschen? Um nach wie vor den Antifaschismus der DDR-Gesellschaft in Abrede zu stellen und die auf Gesellschafteigentum an Produktionsmitteln beruhende echte Friedensliebe? Das also soll der dunkle Hintergrund vom Leben in der DDR und damit von Merkels Leben sein?
Um nur einige wenige, der Gedankenakrobatik entsprungene und die Geschichte verfälschende phraselologische Fügungen zu nennen: Die DDR-Gründung 1949 sei eine Antwort von sowjetischen Besatzern und ihren deutschen Helfern auf die Gründung der BRD gewesen. (S. 18) Diffamiert wird der Staat DDR auch durch die Unterstellung, die Kirche und die „Junge Gemeinde“ hätten im Mittelpunkt des „staatlichen Terrors“ gestanden. (S. 19) Horst Kasner, dem Vater der Angela Merkel, man nannte ihn den „Roten Pastor“, der für eine Kirche im Sozialismus eintrat, wird Naivität „vorgeworfen“, er würde „das wahre Wesen des zweiten deutschen Staates“ nicht verstehen. (S. 26) Auf Seite 35 wird ihm missbilligend vorgeworfen, mitverantwortlich für folgende Aussage zu sein: Die Kirche habe sich in den „Dienst der sozialistischen Gesellschaft zu stellen“, um eine Wiederholung der Hitler-Barbarei zu verhindern. Weiter: Die „Christliche Friedenskonferenz“ (CFK) 1958 in Prag stünde „unter dem Dogma der Notwendigkeit des Friedens in einer atomar hochgerüsteten bipolaren Welt…“ (S. 28) Unverzeihlich schmettern die Autoren auch diese die Nazidiktatur verniedlichende Lüge von der „zweiten deutschen Diktatur“, die DDR anprangernd, wiederholt in die Welt. (S. 43) Natürlich wurde auch die Worthülse von „Freiheit und Demokratie“ strapaziert, die ein täuschendes pars pro toto für das wahre Wesen des Kapitalismus sein soll. So täuscht man das angeblich „dumme“ Volk.
Die Autoren kommen nicht umhin, der Wahrheit entsprechende Ausssagen zur deutschen Geschichte nach 1945 zu zitieren. So lehnten sich führende linke protestantische Kreise Westdeutschlands gegen „Adenauers West-Integrations-Politik, seinem Wiederbewaffnungskurs und seiner konseqenten Ablehnung des Moskauer Angebots, ein neutrales Gesamtdeutschland zu schaffen“ auf. „Mehr Sozialismus lautete dort die Losung.“ (S. 20) Ergänzend wird von den Autoren registriert, dass die neue Generation im Westen nach der Rolle der Väter während Nazidiktatur und Völkermord gefragt habe, dass sie den Vietnamkrieg des US-Imperialismus verurteilte und bald in der DDR weniger die kommunistische Diktatur sah als den „antifaschistischen“ und damit den moralisch legitimierten zweiten deutschen Staat…(S. 78)
Zurück zur Angela Merkel. Wie hat sie als spätere Studentin und Sekretärin für Agitation und Propaganda in der FDJ an der Karl-Marx-Universität und später an der Akademie der Wissenschaften der DDR solche und ähnliche Wahrheiten über die Geschichte verinnerlicht? Es liegt auf der Hand: Offensichtlich ließ sie weltanschauliche Themen überhaupt nicht an sich heran, denn sie besaß das Talent, stets zuzuhören ohne ihre Meinung zu sagen. Sie wollte nicht auffallen. Trotz Blautuch bei den Jungen Pionieren und später im Blauhemd der FDJ („ich war gerne in der FDJ“) habe sie sich so verhalten, „dass ich mit diesem Staat nicht dauernd in Konflikt leben musste“. (S. 12) Weshalb habe sie dann trotzdem mitgemacht, ohne „aufzumucken“?
Die Autoren finden es heraus: Sie war gemeinschaftshungrig. Die Hauptsache war für die junge FDJlerin, dass sie vorwärts kam, ob auf der Erweiterten Oberschule oder als Studentin der Physik. Sie spricht es auch unverblümt aus: Du musst nur für dich da sein. (S. 146) Später wird sie zugeben, immer schon für das westliche Wirtschaftsmodell geschwärmt zu haben. Die Wirtschaft sei nur noch über Wettbewerb und Markt zu steuern. (S. 223)
Zur Wendezeit wurde sie plötzlich sehr lebendig und neugierig. Sie roch den Braten, denn das Private hatte bei ihr stets Vorrang. So nimmt es nicht Wunder, wenn die junge und „intelligente“ Frau schnell mit ihrer Vergangenheit abschloss und mir nichts dir nichts die „Nähe zum Sieger“ suchte. (S. 232) Mit großer Verwunderung und Befremden nahmen ihre ehemaligen Freunde und Mitstreiter an der Akademie die politisch-moralische Kehrtwende wahr. „Wer eine solche Wendung mitmacht - für den können politische Inhalte nicht im Mittelpunkt stehen. Für den geht es um Karriere und Macht. Für den ist Macht Selbstzweck.“ (S. 286)
Fest steht, das Anliegen der Autoren, den Hintergrund des Lebens in der DDR darzustellen, um daraus Schlüsse für das Denken und Fühlen der Angela Merkel zu ziehen, ist ihnen kaum gelungen. (Wollten sie das wirklich?) An äußeren Taten und Mitmachaktionen ist ihr damaliges Innenleben nicht sichtbar geworden. Solche wie sie gab es zuhauf, die nur Lippenbekenntnisse zur Schau trugen, um sich persönliche Vorteile zu ergattern. Allerdings ist folgende inhaltliche Aussage von geborenen DDR-Gegnern, deren Sicht nur auf ein Zerrbild gerichtet ist, nicht von der Hand zu weisen: In so einem „Stasiland“ sei inhaltliches Engagement unmöglich gewesen! Womit wir dann wieder bei den „Hintergründen“ für ihr erstes Leben gelandet wären.
Denn auch dies ist die Botschaft dieses Prügelbuches: Es gibt kein Schwarz, Grün, Gelb. (Rot existiert für diese Rückläufer der Geschichte nicht.) Es ist aus mit eindeutigen Farbzuweisungen für Parteien und Gruppierungen. (Siehe Regierungskoalition.) Gefragt ist Beliebigkeit, Austauschbarkeit und Unberechenbarkeit. Vorbei mit einer klaren politischen Orientierung. Es ist die Zeit angebrochen fürs Lavieren, um das Volk zu täuschen. Zeit ist da für die Mitte, fürs Zulächeln gegenüber jedermann. Jeder färbe sich selbstbestimmend ein, je nach Lust und Laune. Es lebe der Pluralismus und die vielgepriesene Individualität. „Jedem das Seine.“ Die Angela M. machts vor. Nie wieder Ideologie. Nie wieder Kollektivismus. Habt Spaß, aber stört die Wirtschaft nicht beim Wachstum.
Für die Kanzlerin ist die Steuerbrücke also genau der richtige Platz. Die Geldmacht braucht sie zur Tarnung. Was wird sie antworten, wenn einmal das „Regierende Volk“ die Maskenfrau zur Rechenschaft ziehen würde, warum sie sich von einer Humanistin - denn schließlich trat sie vor und während der Wende für einen demokratischen Sozialismus ein - zu einer absolut marktkonformen und dem Zeitgeist angepassten Staatenlenkerin hatte hinreißen lassen? Vielleicht fiele die Antwort so aus: Ich wollte stets das Beste, war doch immer brav zu jedermann… So würde sich halt ein Camälion rechtfertigen, dass dem Kapitalismus selbst im Zerfallsprozeß noch kräftig zu Diensten war. Den Autoren sei gedankt.
Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: „Das erste Leben der Angela M.“, Gebundene Ausgabe: 336 Seiten, Verlag: Piper; Auflage: 4 (14. Mai 2013), Sprache: Deutsch , ISBN-10: 3492055818 , ISBN-13: 978-3492055819
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19170
Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com
Buchtipp von maler76
Ein Camäleon kann seine Farbe blitzschnell wechseln, wie mitunter auch ein Mensch, besonders in Gefahrensituationen. Das dient der Tarnung und der Kommunikation mit Artgenossen. Was die Echse vom Menschen unterscheidet - sie ist im Aussterben begriffen. In der menschlichen Gesellschaft aber ist das Camäleon stark im Kommen. Wer hätte dies nicht schon - auch an sich selbst - beobachtet. Brisant wird die Sache nur, wenn der Farbwechsel, oder auch Gesinnungswechsel, bei der Gattung Mensch aus politischen Gründen erfolgt. Bei Leuten, die das Gesellschaftsschiff zu steuern haben, denn bei dieser charakterlichen Schwankungsbereitschaft weiß man nie so genau, wohin die Reise gehen soll.
Zwei Bundesbürger haben so einer markanten Persönlichkeit mit eben dieser Perfektion des Standpunktwechsels und des irritierenden Schwadronierens, des Lavierens zwischen allen Fronten und des ewigen gewinnenden Lächelns mit jedermann Namen und Gesicht gegeben. Der Titel: „Das erste Leben der Angela M.“ Die Autoren: Ralf Georg Reuth, 1952 in Oberfranken geboren, studierte Geschichte sowie Germanistik und promovierte 1983 über Hitlers Strategie. Günther Lachmann wurde 1961 in Papenburg geboren. Sein Studium galt der Vokswirtschaft. Er ist verantwortlicher Redakteur der WELT-Gruppe in Berlin.
Das fängt in dem 336 Seiten zählenden Buch interessant an: Das Autoren-Team überrascht die Leser mit einer nicht gerade löblichen Einschätzung: Sie sei sehr zurückhaltend, wenn es um ihre inneren Befindlichkeiten gehe, verschlossen, um nicht zu sagen verschwiegen. Bei der Schilderung des nur über 20 Jahre zurückliegenden Geschehens bleibt sie „vage, ganz so, als seien die damals handelnden Personen bis heute in einem dichten Nebel verborgen“. (S. 9) „Bis heute rätseln Zeitgeschichtler und Journalisten über ihr Weltbild, ihre Antriebskräfte, ihre Ziele und ihre Unnahbarkeit, die sie, die doch ganz oben angekommen ist, immer noch umgibt.“ So zitieren Reuth und Lachmann die „Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.12.2004. (S. 11) Allerdings: Sie sei immer gegen den Sozialismus gewesen, sie habe schon immer die staatliche Einheit und die soziale Marktwirtschaft „im Blick“ gehabt. So nährte sich „die Legende von der patriotischen Pfarrerstochter, die in der Wende auszog, um mitzuhelfen, die gespaltene Nation zusammenzufügen“. (S. 285)
Welch ein Frontenwechsel der Angela M.! Von einer engagierten FDJlerin, von der Sekretärin für Agitation und Propaganda zu einer marktkonformen Staatenlenkerin! Steckt dahinter nur ein klatblütiges Kalkül, mit dem Strom der Zeit zu schwimmen, ganz oben sein zu wollen? Antworten finden auch die beiden Autoren nicht, denn die Merkel beherrsche die Kunst, „sich nicht festzulegen, nichts zu sagen“ und sie habe die Fähigkeit „eine Maske zu tragen“. (S. 14) So bleibt nur übrig festzustellen, sie habe sich dem Zeitgeist angepasst, damals wie heute.
Statt ihrer basteln die Autoren an unterbelichteten gesellschaftlichen Tatsachen und Zuständen, die für eine frühe Absage an den Sozialismus bei der DDR-Bürgerin herhalten muss. Bienenfleißig quetschen sie Augenzeugen aus, wühlen und schnüffeln wie Spürhunde in Stasi-Akten. Ihr „bewährtes“ Angriffsziel für Einäugige: Das Verhältnis von Staat und Kirche. Sie erspähen aus der Froschperspektive – das ist ja nichts Neues - ,dass die Stasi überall war. Sie entwerfen ein DDR-Bild - obwohl sie dort nicht groß geworden sind - , das aus der Manipulationskiste von BILD zu stammen scheint. Haben die Autoren Angela Merkels Leben lediglich dazu benutzt, um wiederholt auf die einstige DDR mit ihren großen Visionen für ein friedliches Dasein einzudreschen? Um nach wie vor den Antifaschismus der DDR-Gesellschaft in Abrede zu stellen und die auf Gesellschafteigentum an Produktionsmitteln beruhende echte Friedensliebe? Das also soll der dunkle Hintergrund vom Leben in der DDR und damit von Merkels Leben sein?
Um nur einige wenige, der Gedankenakrobatik entsprungene und die Geschichte verfälschende phraselologische Fügungen zu nennen: Die DDR-Gründung 1949 sei eine Antwort von sowjetischen Besatzern und ihren deutschen Helfern auf die Gründung der BRD gewesen. (S. 18) Diffamiert wird der Staat DDR auch durch die Unterstellung, die Kirche und die „Junge Gemeinde“ hätten im Mittelpunkt des „staatlichen Terrors“ gestanden. (S. 19) Horst Kasner, dem Vater der Angela Merkel, man nannte ihn den „Roten Pastor“, der für eine Kirche im Sozialismus eintrat, wird Naivität „vorgeworfen“, er würde „das wahre Wesen des zweiten deutschen Staates“ nicht verstehen. (S. 26) Auf Seite 35 wird ihm missbilligend vorgeworfen, mitverantwortlich für folgende Aussage zu sein: Die Kirche habe sich in den „Dienst der sozialistischen Gesellschaft zu stellen“, um eine Wiederholung der Hitler-Barbarei zu verhindern. Weiter: Die „Christliche Friedenskonferenz“ (CFK) 1958 in Prag stünde „unter dem Dogma der Notwendigkeit des Friedens in einer atomar hochgerüsteten bipolaren Welt…“ (S. 28) Unverzeihlich schmettern die Autoren auch diese die Nazidiktatur verniedlichende Lüge von der „zweiten deutschen Diktatur“, die DDR anprangernd, wiederholt in die Welt. (S. 43) Natürlich wurde auch die Worthülse von „Freiheit und Demokratie“ strapaziert, die ein täuschendes pars pro toto für das wahre Wesen des Kapitalismus sein soll. So täuscht man das angeblich „dumme“ Volk.
Die Autoren kommen nicht umhin, der Wahrheit entsprechende Ausssagen zur deutschen Geschichte nach 1945 zu zitieren. So lehnten sich führende linke protestantische Kreise Westdeutschlands gegen „Adenauers West-Integrations-Politik, seinem Wiederbewaffnungskurs und seiner konseqenten Ablehnung des Moskauer Angebots, ein neutrales Gesamtdeutschland zu schaffen“ auf. „Mehr Sozialismus lautete dort die Losung.“ (S. 20) Ergänzend wird von den Autoren registriert, dass die neue Generation im Westen nach der Rolle der Väter während Nazidiktatur und Völkermord gefragt habe, dass sie den Vietnamkrieg des US-Imperialismus verurteilte und bald in der DDR weniger die kommunistische Diktatur sah als den „antifaschistischen“ und damit den moralisch legitimierten zweiten deutschen Staat…(S. 78)
Zurück zur Angela Merkel. Wie hat sie als spätere Studentin und Sekretärin für Agitation und Propaganda in der FDJ an der Karl-Marx-Universität und später an der Akademie der Wissenschaften der DDR solche und ähnliche Wahrheiten über die Geschichte verinnerlicht? Es liegt auf der Hand: Offensichtlich ließ sie weltanschauliche Themen überhaupt nicht an sich heran, denn sie besaß das Talent, stets zuzuhören ohne ihre Meinung zu sagen. Sie wollte nicht auffallen. Trotz Blautuch bei den Jungen Pionieren und später im Blauhemd der FDJ („ich war gerne in der FDJ“) habe sie sich so verhalten, „dass ich mit diesem Staat nicht dauernd in Konflikt leben musste“. (S. 12) Weshalb habe sie dann trotzdem mitgemacht, ohne „aufzumucken“?
Die Autoren finden es heraus: Sie war gemeinschaftshungrig. Die Hauptsache war für die junge FDJlerin, dass sie vorwärts kam, ob auf der Erweiterten Oberschule oder als Studentin der Physik. Sie spricht es auch unverblümt aus: Du musst nur für dich da sein. (S. 146) Später wird sie zugeben, immer schon für das westliche Wirtschaftsmodell geschwärmt zu haben. Die Wirtschaft sei nur noch über Wettbewerb und Markt zu steuern. (S. 223)
Zur Wendezeit wurde sie plötzlich sehr lebendig und neugierig. Sie roch den Braten, denn das Private hatte bei ihr stets Vorrang. So nimmt es nicht Wunder, wenn die junge und „intelligente“ Frau schnell mit ihrer Vergangenheit abschloss und mir nichts dir nichts die „Nähe zum Sieger“ suchte. (S. 232) Mit großer Verwunderung und Befremden nahmen ihre ehemaligen Freunde und Mitstreiter an der Akademie die politisch-moralische Kehrtwende wahr. „Wer eine solche Wendung mitmacht - für den können politische Inhalte nicht im Mittelpunkt stehen. Für den geht es um Karriere und Macht. Für den ist Macht Selbstzweck.“ (S. 286)
Fest steht, das Anliegen der Autoren, den Hintergrund des Lebens in der DDR darzustellen, um daraus Schlüsse für das Denken und Fühlen der Angela Merkel zu ziehen, ist ihnen kaum gelungen. (Wollten sie das wirklich?) An äußeren Taten und Mitmachaktionen ist ihr damaliges Innenleben nicht sichtbar geworden. Solche wie sie gab es zuhauf, die nur Lippenbekenntnisse zur Schau trugen, um sich persönliche Vorteile zu ergattern. Allerdings ist folgende inhaltliche Aussage von geborenen DDR-Gegnern, deren Sicht nur auf ein Zerrbild gerichtet ist, nicht von der Hand zu weisen: In so einem „Stasiland“ sei inhaltliches Engagement unmöglich gewesen! Womit wir dann wieder bei den „Hintergründen“ für ihr erstes Leben gelandet wären.
Denn auch dies ist die Botschaft dieses Prügelbuches: Es gibt kein Schwarz, Grün, Gelb. (Rot existiert für diese Rückläufer der Geschichte nicht.) Es ist aus mit eindeutigen Farbzuweisungen für Parteien und Gruppierungen. (Siehe Regierungskoalition.) Gefragt ist Beliebigkeit, Austauschbarkeit und Unberechenbarkeit. Vorbei mit einer klaren politischen Orientierung. Es ist die Zeit angebrochen fürs Lavieren, um das Volk zu täuschen. Zeit ist da für die Mitte, fürs Zulächeln gegenüber jedermann. Jeder färbe sich selbstbestimmend ein, je nach Lust und Laune. Es lebe der Pluralismus und die vielgepriesene Individualität. „Jedem das Seine.“ Die Angela M. machts vor. Nie wieder Ideologie. Nie wieder Kollektivismus. Habt Spaß, aber stört die Wirtschaft nicht beim Wachstum.
Für die Kanzlerin ist die Steuerbrücke also genau der richtige Platz. Die Geldmacht braucht sie zur Tarnung. Was wird sie antworten, wenn einmal das „Regierende Volk“ die Maskenfrau zur Rechenschaft ziehen würde, warum sie sich von einer Humanistin - denn schließlich trat sie vor und während der Wende für einen demokratischen Sozialismus ein - zu einer absolut marktkonformen und dem Zeitgeist angepassten Staatenlenkerin hatte hinreißen lassen? Vielleicht fiele die Antwort so aus: Ich wollte stets das Beste, war doch immer brav zu jedermann… So würde sich halt ein Camälion rechtfertigen, dass dem Kapitalismus selbst im Zerfallsprozeß noch kräftig zu Diensten war. Den Autoren sei gedankt.
Ralf Georg Reuth, Günther Lachmann: „Das erste Leben der Angela M.“, Gebundene Ausgabe: 336 Seiten, Verlag: Piper; Auflage: 4 (14. Mai 2013), Sprache: Deutsch , ISBN-10: 3492055818 , ISBN-13: 978-3492055819
Erstveröffentlichung der Rezension in der Neuen Rheinischen Zeitung
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=19170
Mehr über den Rezensenten: http://cleo-schreiber.blogspot.com