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Alfred Adler

Joachim Stiller

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9. Januar 2014
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Alfred Adler und die Individualpsychologie

Ich möchte den Adlerschen Ansatz zur Individualpsychologie einmal mit meinen eigenen Worten wiedergeben. Dabei mache ich ganz bewusst bestimmte Einschränkungen, allein um der logischen Klarheit willen. Ich beginne nämlich meine Argumentationskette nicht beim „Minderwertigkeitsgefühl“ und komme dann zum „Geltungsstreben“ und zum „Willen zur Macht“ sondern bei mir ist ein natürliches „Anerkennungsbedürfnis“ vorgelagert. Ja, ich nehme sogar zuerst einen allen Menschen innewohnenden „Geltungstrieb“ an. Die Schlüssigkeit dieser Argumentation sollte aus sich selbst ersichtlich werden und bedarf keiner weiteren Begründung.

Zunächst ist also jedem Menschen ein natürlicher Geltungstrieb eigen, ein Geltungsbedürfnis, dass der Mensch genau so hat, wie etwa ein Zärtlichkeitsbedürfnis oder ein Zuwendungsbedürfnis (auch der späte Adler war diesem Trieb ganz dicht auf der Spur, als er bereits einen Vollkommenheitsdrang- oder Trieb annahm). Wird dieses Geltungsbedürfnis nicht oder in der falschen Weise befriedigt, entsteht ein Minderwertigkeitsgefühl, das bei dauerhafter Hemmung zu einem mehr oder weniger ausgewachsenen Minderwertigkeitskomplex werden kann. Schuld können in der Erziehung von Kindern etwa Gewalt oder Liebesentzug sein, aber auch Verzärtelung oder Verhätschelung bis hin zu anhaltender Lügenhaftigkeit. Ich möchte einmal behaupten, dass jedem Menschen Minderwertigkeitsgefühle eigen sind, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Ob sich daraus ein Minderwertigkeitskomplex entwickelt, muss sich zeigen.

Die weitere Argumentation deckt sich dann wiederum mit der von Alfred Adler: das Minderwertigkeitsgefühl bzw. der Minderwertigkeitskomplex führt zu Kompensationsstrategien für den unbefriedigten Geltungsdrang der sich entweder eben durch Kompensation oder aber durch Überkompensation Luft verschafft. Bei Kompensation wird der Geltungsdrang zum Geltungszwang, wobei bedingt durch die Kompensationsstrategien, wie Geiz, Neid, Eifersucht, Eitelkeit, Demütigung, Aggression und Gewalt, Habgier usw. sich eine handfeste „Charakterneurose“ ausbildet. Bei Überkompensation hingegen schlägt der Geltungsdrang um in einen übersteigerten Geltungswahn, in einen Machtwahn (Wille zur Macht) bzw. in Größenwahn, der meistens bis zum völligen Realitätsverlust geht. Größenwahnsinnige Diktatoren, wie etwa Adolf Hitler, haben also einen besonders ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex.

Vielleicht noch ein paar Worte zu Sigmund Freud: Ich selber erkenne die Leistungen von Sigmund Freud, etwa auch auf dem Gebiet der Sexualneurosen und der traumatischen Neurosen, die von der Individualpsychologie weiter nicht berührt werden, unbedingt an, stelle der Psychoanalyse aber die Individualpsychologie als gleichberechtigt an die Seite. Ich unterscheide also zwischen Sexualneurosen, traumatischen Neurosen und eben den Charakterneurosen, oder anders gesagt, ich unterscheide zwischen sexuell bedingten Neurosen, traumabedingten Neurosen und eben charakterlich bedingten Neurosen.
 
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Der kollektive Minderwertigkeitskomplex

Einen mehr oder weniger ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex weisen nicht nur einzelne Individuen auf, sondern auch ganze Menschengruppen. Das wusste auch Adler. So gibt es in besonderem Maße ein Minderwertigkeitsgefühl bei Frauen gegenüber dem männlichen Geschlecht, bei Arbeitern gegenüber den Kapitalisten oder auch bei Schwarzen gegenüber den Weißen, ganz besonders in Amerika. Diese drei Beispiele sind hier die bedeutendsten Beispiele, für einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex. Aber auch ganze Völker können einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex entwickeln, so zum Beispiel das Deutsche Volk vor dem Dritten Reich, ein Minderwertigkeitskomplex, der sich dann im Dritten Reich in einem einzigartigen Größenwahn mit völligem Realitätsverlust entlud. Dies wäre wirklich ein Ansatz für eine neue und zeitgemäße Faschismustheorie.

Besonders möchte ich auf das Werk „Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft“ von O. Brachfeld hinweisen, der sehr viel Material dazu zusammengetragen hat.
 
Individualpsychologie und Charakterkunde

Der Wert der Individualpsychologie für die Charakterkunde ist unverkennbar. Aus diesem Grund ist Adlers Individualpsychologie bei Ärzten, Philosophen und Pädagogen wohl auch so beliebt, leider weniger in Deutschland, dafür aber in Amerika. Es gibt, was die Charakterneurosen bzw. die Kompensationsstrategien betrifft, gewisse Anklänge an die sieben Todsünden des Mittelalters. Es sind freilich nur Anklänge. Die sieben Todsünden lauten wie folgt: Stolz, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn und Trägheit.

Bei den beiden Todsünden Geiz und Neid handelt es sich unverkennbar um typische Kompensationsstrategien auf der Grundlage eines Minderwertigkeitskomplexes. Ich möchte nun einmal versuchen, eine Art Liste von sieben neuen Todsünden so aufzustellen, dass sie im Einklang mit der Individualpsychologie stehen. Und zwar wie folgt:
-Geiz und Habgier
-Neid und Eifersucht
-Eitelkeit und Nazismus
-Grausamkeit, Aggression und Gewalt
-Misstrauen, Furcht und Ängstlichkeit
-Perfektion, Pedanterie und Ehrgeiz
-Herabsetzenden Kritik und Demütigung

Diese Darstellung der sieben Todsünden ist natürlich reine Spielerei. Die neurotischen Störungen sollten grundsätzlich nicht übersystematisiert werden. Das Beispiel zeigt aber, dass etwa Listen von „Todsünden“, „Tugendlehren“, und dergleichen mehr, immer von den jeweiligen Zeitverhältnissen abhängen.
 
Literaturhinweise

- Joseph Rattner: „Klassiker der Psychoanalyse“ (insbesondere das 2. Kapitel)
- Alfred Adler: „Über den nervösen Charakter“
- Alfred Adler: „Praxis und Theorie der Individualpsychologie“
- Alfred Adler: „Menschenkenntnis“
- H.L. und R.R. Ansbacher: „Alfred Adlers Individualpsychologie“
- O. Bachfeld: „Minderwertigkeitsgefühle beim Einzelnen und in der Gemeinschaft“
- O. Weininger: „Geschlecht und Charakter“
 
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