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Broccoli

Roberto

New Member
Registriert
30. Juni 2007
Beiträge
31
Folgend einige Zeilen, die mir beim Genuß eines Auflaufsgerichts in den Sinn kamen. Selbst mir bleibt rätselhaft, in welcher Kategorie sich der nun folgende Text wohlfühlen könnte. Mag sein, daß meine Vorliebe für Tucholsky herauszulesen ist, zumal ein Zitat des großen Berliners vorangestellt sei.

In diesem Sinne, sei dies mein Einstand im Denkforum...

„Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleineren Übels oder „Hier können Familien Kaffee kochen“ oder so etwas, vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet, und sie wären dahin gegangen, wohin sie gehören: zu einer Arbeiterpartei. So aber macht der Laden seine schlechten Geschäfte unter einem ehemals guten Namen.“
- Kurt Tucholsky -

Ohne zu mäkeln wird die fürsorgliche Ehefrau die Bitte ihres Mannes umsetzen und ihm einen Broccoliauflauf servieren. Broccoli, welches er einst als billiges, fast erbärmliches Gemüse des kleinen Mannes ansah, als Unterschichten-Grünzeug! Nun soll es Einzug in die heimische Küche finden. Ein köstliches Gericht, das proletarische Kreuzblütengewächs mit einem braungebackenen, gutbürgerlichen Käse überzogen. Obwohl es mundete und man sich schnell zum baldigen Wiederzubereiten entschloß, war man sich im familiären Kreise schnell darüber einig geworden, dass mit Broccoli und Käse alleine, es nicht getan sein könne. Kartoffeln! Ja, die bewährte Knolle sollte untergemengt werden.

Steingut neigt nicht zum Wachsen: Nur weil man sich eines zweiten Gemüses unter dem Gratinierten entschied, führte dies, erstens: nicht zum Kauf einer neuen, geräumigeren Auflaufform und zweitens: ebenso wenig zu einem Wunder des Anwachsens derselbigen, schon im Haushalt befindlichen.
So nahmen also die Kartoffeln - die man reichlich dazugab - einen Großteil von Broccolis Platz ein, trotz des Umstandes, dass dies grüne Gewächs der Namensgeber war und auch blieb. Kartoffel-Mehrheit hin oder her, im Familienkreise sprach man fortan vom Broccoliauflauf.

Sellerie und Karotten waren die nächsten Zutaten, die dem Broccoli Gesellschaft leisten sollten. Freilich reduzierte sich das Grün im Gesamtbild erneut. Kam die Familie aber überein, man wolle gratiniertes Gemüse, so schrie sie weiterhin: Broccoliauflauf!
Erneut Grünverlust: Paprika, Zucchini und Aubergine fanden Zugang unter die Käsekruste. Andere Zutaten - vornehmlich Hülsenfrüchte - wurden nach einmaliger Verwendung sofort wieder ausgeladen, doch dies Zurücknehmen mehrte den Zuspruch des Broccolis nicht. Und schon bevor man sich entschloß, dem Vegetarischen zu entkommen, indem man Speckscheiben vor dem Käsestreuen auflegte, war der Namensgeber zur Minderheit geworden und an den Rand gedrängt. Der bewährte Name aber blieb, ja, viel schlimmer noch: Kam das Gericht als „Gemüsegratin“ auf den Tisch, so rätselte man, was dies sein möge. Niemand wußte mit dieser Bezeichnung etwas anzufangen, bis das erlösende „Broccoliauflauf“ fiel.

Es kam, wie es kommen mußte: Erneut stand der familiäre Kollektivwunsch nach dem proletarischen, wenn nun auch verfeinerten Gericht. Dumm nur, daß ausgerechnet heute der Broccoli nicht zur Hand war. So also geschah das Unglaubliche: Ganz ohne grüne Kreuzblüten wurde geschmaust. Die Abwesenheit wurde nicht einmal bemerkt. Warum aber etwas Bewährtes, etwas daß jeder versteht, anders benennen?

Nun könnte man vom Lauf der Zeit sinnieren, der einstige Helden stürzt oder vergangene Werte und Genüsse verteufelt. Tut man dies, so muß aber auch das Neue – der Platzhalter, das Surrogat - mit in die Überlegungen eingeschlossen werden, welches sich anstatt des Vergangenen positioniert: Ein blasser Blumenkohl soll diese Rolle spielen: Broccoli war aus dem Haushalt verbannt. Keiner wußte so recht, warum dies so war, aber der Lauf der Zeit kann nicht immer erklärt werden. Er waltet seines Amtes, ohne Fragen zu beantworten und viel zu oft erkennt man Veränderungen gar nicht aus dem Alltagsblick heraus. So nahm der farblose Doppelgänger fortan die Rolle ein, die anfangs dem einstigen Namensgeber zuteil wurde.

Das jüngste Familienmitglied, um dies trostlose Stück zu einem baldigen Ende zu führen, kannte dies Mahl nur als „Broccoliauflauf“, so wie Eltern es lehrten und Geschwister dies nachäfften. Während sich aber letztere zumindest an etwas Grünes erinnern und mit viel Geistesanstrengung dem Grünen sogar den passenden Namen zuteilen können, bleibt dem Jüngsten dieses Wissen versperrt: Sein Broccoli ist Blumenkohl und sieht er ihn am Verkaufstische, so meint er zu wissen: Dies ist Broccoli, das tragende Ingrediens und Fundament des Gerichts.

Der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands darf man eine vergangene Broccolinatur nachsagen. Das proletarische Grüngewächs, der politische Auswuchs des Arbeiters: All das wurde Stück für Stück entfernt und durch andere Werte und Ideale ersetzt. Diese neuen Zutaten verfälschten den Geschmack der Sozialdemokratie, raubten des Broccolis Eigenheit. Ganz verschwand das einstige Wesen des Sozialen nicht, und mit einiger – wenngleich weniger – Berechtigung, durfte man weiter von einer sozialen und demokratischen Partei sprechen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Broccoli ausging, bis das geschmackstragende, aber schon lange „sterbende“ Gemüse weggelassen wurde.

Aber selbst als die Sozialdemokratie ihr Wesen vollends verlor, konnte man sie als Alternative ansehen, die zwar nicht ernstzunehmen war, aber immerhin keiner politischen Klamaukshow gleichkam. Dann aber entdeckten die führenden Köpfe den Blumenkohl, experimentierten damit und befanden ihn würdig der neuen Ideologie der Partei. Um niemanden zu verwirren, um die jüngeren Genossen scheinbar in eine Ahnengalerie zu hieven, der schon den Urgroßvater angehört, blieb man dabei, weiterhin alles „Broccoli“ zu nennen, so wie es überliefert wurde. Keiner merkt, daß man nun Blumenkohl als Broccoli getarnt untermengt, daß man konservatives Christdemokratentum unter dem Namen der Sozialdemokratie vertritt. Und vertritt einer der Köche nicht bis ins kleinste Detail die Ansichten des Blumenkohl-Konservatismus, so fliegt er glatt aus der Broccoli-Fraktion.
 
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Lieber Roberto,

ich verstehe leider nichts von den deutschen Parteien, aber deine Geschichte finde ich toll.
Herzlich willkommen im Denkforum! :sekt:

Liebe Grüsse:blume1:
Ela
 
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:lachen:

Hi Roberto,
als ehemaliger Broccoli-Wähler kann ich diese Geschichte nicht ohne verständisvolles Schmunzeln lesen.

Klasse Geschichte.


Gruß
Andreas
 
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