Irans Oppositionelle schweigen nicht - 06.04.2005
565 Intellektuelle fordern in einem Manifest grundlegende Reformen
Man hatte wenig Grund, mit Zuversicht auf die im Juni bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Iran zu blicken. In der vom gescheiterten Reformkurs der Regierung Khatami enttäuschten Bevölkerung breitete sich Resignation aus; nun bringt ein Appell von Intellektuellen und Dissidenten die Diskussion erneut in Bewegung.
565 Intellektuelle, Professoren, Studenten, Politiker und Journalisten, darunter namhafte Reformer und Dissidenten - das Spektrum reicht vom Studentenführer Ali Afschari über den ehemaligen Kulturminister Parviz Verdjawand bis zu Nasser Farbod, vormals Chef der Streitkräfte -, haben in Iran eine Erklärung veröffentlicht, die allgemein als Neubeginn einer sich formierenden, radikalen Reformbewegung eingeschätzt wird.
Die Erklärung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich im Gegensatz zu bisher veröffentlichten Stellungnahmen oppositioneller Gruppen nicht mit allgemeinen Kritiken begnügt, sondern konkret auf die zurzeit herrschende wirtschaftliche, soziale und politische Krise hinweist und diese mit von staatlicher Seite veröffentlichten Daten belegt.
Grundlage für eine Demokratiebewegung
Die Erklärung hat in Iran sowie bei Iranern im Exil parteiübergreifend eine grosse Zustimmung erhalten.
Sie wird allgemein als ein Manifest betrachtet, auf dessen Grundlage sich die zersplitterte Opposition im In- und Ausland zu einer einheitlichen antidiktatorischen, demokratischen Bewegung formieren könnte. Im Folgenden veröffentlichen wir eine gekürzte Übersetzung der Erklärung, bei der vorab die gesellschaftlichen und politischen und weniger die wirtschaftlich- statistischen Aspekte im Vordergrund stehen.
Im Namen Gottes.
Liebe Landsleute
Während die Machthaber und ihre ernannten Handlanger versuchen, das Volk mit dem Vorspiel zu den Präsidentschaftswahlen zu beschäftigen, befindet sich unser Land politisch, sozial, kulturell und wirtschaftlich in einer der tiefsten Krisen seiner Geschichte.
Die Konflikte erzeugende Aussenpolitik Irans hat dazu geführt, dass zurzeit die Interessen unseres Landes von allen Seiten bedroht werden. . . . Heute, im siebenundzwanzigsten Jahr der Revolution - einer Revolution, die Unabhängigkeit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit versprach -, ist Iran mit zahlreichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Problemen konfrontiert.
Die jahrzehntelange Missachtung unserer Geschichte, Kultur und Zivilisation haben die Massen unseres Volkes, insbesondere Jugendliche, von der Liebe zum eigenen Land entfremdet. Ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft, der Resignation preisgegeben, begibt sich ein beachtlicher Teil von ihnen ins moralische Verderben und in die Drogensucht, sucht Zuflucht in Illusionen und flüchtet vor sich selbst und den Realitäten.
Der Drogenkonsum steigt, die Schlägereien auf den Strassen werden immer häufiger. Mehr als fünf Millionen Akten über private Konflikte, Besitzklagen und kriminelle Delikte liegen bei den Gerichten.
Allein in den vergangenen sechs Monaten wurden 164 000 Verkehrstote und Verletzte, zahlreiche Selbstmorde unter den Schülern in Teheran und mehrere tausend Selbstmorde bei jungen Frauen und Männern im ganzen Land registriert. Mehr als hunderttausend Menschen befinden sich in langfristiger Haft.
Es gibt mehr als elf Millionen Drogenabhängige und mehrere zehntausend Aids-Infizierte. Die Anzahl der Obdachlosen, die die Nächte in Kartons verbringen, sowie die Anzahl der Strassenkinder haben stark zugenommen.
Im Warenschmuggel wurden in diesem Jahr fünfzehn Milliarden Dollar umgesetzt. Kapital und Fachkräfte fliehen ins Ausland. Ein Fünftel der arbeitsfähigen Bevölkerung ist arbeitslos, darunter ein Drittel der Menschen zwischen zwanzig und fünfunddreissig Jahren. Am stärksten sind studierte Frauen in den Städten von der Arbeitslosigkeit betroffen. Viele junge Männer und Frauen können wegen Arbeitslosigkeit und Armut nicht heiraten, was dazu führt, dass zahlreiche Frauen ledig bleiben und ins Verderben getrieben werden.
Mindestens ein Viertel der Dörfer ist infolge der Landflucht menschenleer. Der moralische Verfall, insbesondere bei Neureichen und in den Kreisen um die Machthaber, ist beängstigend. Frauen und junge Männer werden ins Ausland verkauft. Diebstahl, Messerstechereien, Mord und Vergewaltigungen häufen sich. . . .
Die Unfähigkeit der Regierung, die Deviseneinnahmen aus dem Ölexport und dem Verkauf industrieller und landwirtschaftlicher Erzeugnisse produktiv einzusetzen, hatte zu Folge, dass der Arbeitsplatzmangel, insbesondere bei Jugendlichen, nicht behoben und der allgemeine Lebensstandard nicht gebessert werden konnte. Korruption und Sittenverfall, Missbrauch der Finanzquellen durch Stiftungen und Institutionen, die den Machthabern unterstanden und daher keine Steuern zahlten, die chaotischen Verhältnisse in der Produktion und bei der Arbeit, die Verbreitung von Verschwendungssucht und Bestechungsmentalität haben in der Bevölkerung zu Gleichgültigkeit und Resignation geführt. Lebensfreude, Würde und Stolz wurden ausgelöscht.
Kein Wunder, dass Produktivität und Arbeitsleistung einen stark negativen Trend aufweisen. . . Die Verwaltung wird immer weiter aufgebläht, die schwer kranke Bürokratie erweist sich zunehmend als Hemmschuh. Intellektuelle, Schriftsteller, Journalisten, politische Aktivisten und die emanzipatorischen Studentenbewegungen werden unterdrückt, was bedauerlicherweise von der Justiz tatkräftig unterstützt wird. Die Bürgerrechte, die Gleichheit der Rechte von Frauen und Männern werden permanent missachtet. Die von ethnischen und nationalen Minderheiten bewohnten Regionen werden wirtschaftlich vernachlässigt und politisch marginalisiert. Das erzeugt bei diesen Landsleuten eine höchst negative Stimmung, was eine Gefahr für die nationale Einheit und territoriale Integrität unseres Landes darstellt.
Fort mit dem alten System
Die Unzulänglichkeit und Unfähigkeit der jetzigen Machthaber und die Tatsache, dass die Mehrheit des Volkes spontan die Teilnahme an den jüngsten Kommunal- und Parlamentswahlen verweigert hat und dazu tendiert, auch an den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen nicht teilzunehmen, liefern die Bestätigung dafür, dass der bisherige Weg niemals zur Demokratie, zum Rechtsstaat, zu freien Wahlen, zur Gewaltenteilung und zu einer wirklichen Republik führen kann.
Die Erfahrung der letzten acht Jahre hat gezeigt, dass die vom Volk erwünschten Reformen auf diesem Weg nicht durchgesetzt werden können.
Selbst wenn das Volk die Möglichkeit hätte, frei zu wählen und mit Millionen Stimmen einen Staatspräsidenten, ja sogar dazu noch ein Parlament wählen würde, das den Präsidenten unterstützt - selbst dann könnte der Staatspräsident keine andere Funktion ausüben als diejenige eines «Dienstleistenden» für die Machtzentren und die von ihnen ernannten Institutionen.
Wir Unterzeichner sehen den einzigen Ausweg darin, dass wir uns dem Willen des Volkes beugen.
Wir fordern, dass die Struktur der Staatsmacht, die Verwaltung des Landes und die internationalen Beziehungen, ohne undemokratischen Missbrauch der Verfassung, wie in allen fortschrittlichen Staaten der Welt, auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Charta der Vereinten Nationen und von deren Zusatzprotokollen und unter Berücksichtigung unserer nationalen Interessen neu konzipiert werden.
Wenn es gelingt, auf dieser Grundlage ein demokratisches System und die Herrschaft des Volkes zu etablieren, dann werden kompetente Menschen gewählt werden, dann wird jeder sich bereitwillig in den Dienst des Volkes stellen, und ein kreatives und erfolgreiches Wirtschaftssystem wird auf der Grundlage der sozialen Gerechtigkeit und mit dem Ziel der dauerhaften Entwicklung unser Volk aus der drohenden Krise befreien. Nur so kann unser Volk in Glück und Wohlstand leben und, seiner historischen Mission bewusst, in Zusammenarbeit mit anderen Völkern seinen Weg beschreiten. . . .
Aus dem Persischen von Bahman Nirumand.
Quelle: NZZ
http://iran-now.de/content/view/1495/26/