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Russland: Kinder, Kinder, Kinder

Jährlich, traditionell im November, diesmal am letzten Tag des Monats, verkündet der russische Staatspräsident seine „Botschaft an die Föderale Versammlung“.
Dies ist ein Auftrag, der sich aus Artikel 84 der russischen Verfassung ergibt.
Auch diesmal verfolgten im prächtigen Großen Kreml-Saal Abgeordnete von Staatsduma und Föderationsrat den Auftritt Dmitri Medwedjews, allen voran die Regierung und Ministerpräsident Wladimir Putin. In hiesigen Medien werden diese Grundsatzüberlegungen in Anlehnung an gut Bekanntes auch gern „Rede zur Lage der Nation“ genannt.
Diesmal hatte man im Land die Worte des Staatsoberhaupts mit besonderer Spannung erwartet. Einerseits war vorab wenig Inhaltliches bekannt geworden. Andererseits hatte man sich gefragt, welche Kernthesen diesmal im Vorfeld der Duma-Wahlen im Dezember 2011 als Leitlinien russischer Politik vorgestellt würden, ist dies doch stets mit konkreten Anweisungen bzw. Aufträgen an die Regierung verbunden. Und deren Chef heißt eben Putin und will im Frühjahr 2012 mit hoher Sicherheit gegen Medwedjew kandidieren.

Übrigens: Etwa zur gleichen Zeit hatte sich der Ministerpräsident in den Vorjahren in einer mehrstündigen Fernsehsendung mit Konferenzschaltung, sichtbar inszeniert, den Fragen der russischen Bürgerinnen und Bürger gestellt. 2010 gab es diese bisher nicht!

Im Ausland blickt man verständlicherweise vor allem auf die außenpolitischen Aspekte des präsidialen Auftritts, der war an dieser Stelle kurz und knapp, aber deutlich: Russland will an globalen Vereinbarungen zu Sicherheit und Zusammenarbeit mitarbeiten, vor allem an einem gemeinsamen Raketenabwehrsystem mit der NATO, erwartet aber auch eine weitergehende Kooperation und setzt sich für spürbare Entwicklungen einen Zeitraum von 10 Jahren. Geschehe in dieser Zeit nichts Fassbares, so drohe eine neue Runde des Wettrüstens. Sprich, man werde dann den schweren Weg gehen und neue Offensivwaffen stationieren.

Diese Ankündigung stand aber am Ende der Rede und wurde ebenso kurz, aber prägnant abgehandelt wie zu Beginn die volkswirtschaftlichen Themen. Selbst die abnorme Witterungssituation und die katastrophalen Flächenbrände des Sommers 2010 waren eher Randnotizen.

Kinder, Kinder, Kinder : Weit mehr als die Hälfte seiner Rede widmete sich Medwedjew Fragen der nationalen Jugend-, Familien- und Bildungspolitik.
Dabei schafft sich Russland nicht ab, erstmals seit 15 Jahren stieg 2009 wieder die Bevölkerungszahl, wurden mehr Kinder geboren als Menschen verstarben, im vergangenen Jahr war die Geburtenrate in Russland um 21 % höher als 2005.
Gleichzeitig mahnte Medwedjew (übrigens gemeinsam mit Gattin Swetlana Pate des größten russischen Waisenhauses, des Waisenhauses Nr. 1 in seiner Heimatstadt St. Petersburg) an, dass es in den nächsten 15 Jahren hier infolge des Geburtenknicks in den 1990er Jahren zu einem dramatischen Rückgang kommen werde. Gleichzeitig nehme die Lebenserwartung der Bevölkerung hoffentlich (!) zu.
Kurz und gut: Im Mittelpunkt der Rede Medwedjews stand folgerichtig ein ganze Programm für Kinder und Familien.
Mindestens 25 % des jährlich für die Modernisierung des Gesundheitswesens vorgesehenen Staatsbudgets sind für die Kinder- und Jugendmedizin aufzuwenden. Praktisch wären dies für 2011/2012 100 Milliarden Rubel. Besondere Aufmerksamkeit gelte dabei der Prophylaxe.
Eine prinzipielle und zentrale Frage sei der Wohnraum für Familien. Dies umso mehr, da es strategische Ziel sei, die Zahl der Familien mit drei und mehr Kindern drastisch zu erhöhen.
Deshalb werde man in Russland zukünftig Familien, in denen ein drittes oder weiteres Kind geboren wird, staatlicherseits kostenfrei ein Grundstück zur Errichtung eines Wohnhauses übereignen. Überlegenswert sei auch die Praxis eines Begrüßungsgeldes von 100.000 Rubeln für das dritte und jedes weitere Kind. Großfamilien werden darüber hinaus höhere Kinderfreibeträge von 3.000 Rubel/Monat und Kind gewährt.
Im weiteren widmete sich Medwedjew Fragen von Steuererleichterungen für wohltätige Organisationen, des Neubaus und der Rekonstruktion von Kindertagesstätten sowie der frühkindlichen Bildung auch in Vorschuleinrichtungen für Mädchen und Jungen, die keinen Kindergarten besuchen.
Ausführlich sprach der Präsident über das Problem von 130.000 obdachloser russischer Kinder und Jugendlichen und die Gestaltung der Heime und Waisenhäuser.
Der Präsident konstatierte einen Aufwärtstrend in der Kinder- und Jugendkriminalität, jährlich würden mehr als 100.000 Jugendliche straffällig. Keinesfalls dürfe man die Augen vor dem Problem des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und der Kinderpornographie verschließen. Beunruhigend sei auch die Zunahme physischer Gewalt gegen Kinder in der eigenen Familie.
Es fehle – nicht nur bei Kindern – in Russland an einer funktionierenden Infrastruktur für Menschen, die mit Behinderungen leben müssen.
Einen breiten Raum in Medwedjews Rede nahm die anstehenden Reformen des Bildungswesens im allgemeinen und der Schule im besonderen ein. Das neue Bildungsgesetz ist neben dem neuen Polizeigesetz eine der zentralen gesetzgeberischen Aktivitäten Medwedjews.

Ein weiterer wichtiger Abschnitt der präsidialen Überlegungen beschäftigte sich mit Fragen des politischen Systems in Russland, der Fortentwicklung der Demokratie, der Bekämpfung der Korruption und der Rolle der politischen Parteien.
Medwedjew will unbeirrt den Kurs hin zu einer demokratischen Bürgergesellschaft in Russland fortsetzen. Stichpunkte: Der Staat als Dienstleister für die Bürger – Alles aus einer Hand, wider der Bürokratie, für Bürgerbüros – Stärkung nichtstaatlicher, nichtkommerzieller Bürgerorganisationen – Neuregeglung des öffentlichen Vergabewesens wider der grassierenden Korruption. Keine Kompromisse könne es in der Arbeit der regionalen Gouverneure geben. Wo diese versagen, nachlässig sind oder in die eigene Tasche wiortschaften, werde er auch unbequeme Personalentscheidung treffen. Ohne Nennung des Namens ein deutlicher Seitenhieb auf den Ex-Bürgermeister von Moskau Juri Luschkow!
Nach seinen Überlegungen zur Polizeireform nannte der Präsident dann Notwendigkeiten bei der Reform des Justizwesens und in der Arbeit der Staatsanwaltschaften.
Hinsichtlich der Korruption beobachte man zunehmend, dass sich hier professionelle Vermittler betätigen. Sie stellen den Kontakt zwischen dem zu Korrumpierenden und dem Interessenten resp. Geldgeber her. Das erschwere zunehmend die Aufklärung derartiger Vorfälle und werde zukünftig daher zum Straftatbestand werden.
Medwedjew wiederholte zudem seine Kritik am Wirken der politischen Parteien in Russland.
Nicht allen gelinge es, ihre Ideen und Vorstellungen auch in den letzten Winkel des Landes zu tragen Darunter und unter der mangelnden Berücksichtigung regionaler politischer Initiativen leide der Ausbau der Demokratie im Lande. Medwedjew regte daher an, das kommunale Wahlrecht zu änden und für Kommunalvertretungen mit mehr als 20 Mandatsträgern die Verhältniswahl vorzuschreiben.

Meine persönliche Meinung: Ich lese in Medwedjews Rede das abstrichslose Bekenntnis zu einer liberalen, demokratischen Bürgergesellschaft mit zunehmender Abkehr vom total-föderalen Zentralismus in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Die „Ideologie des russischen Konservatismus“ ist die Gegenposition.
Der längst gärende Disput in der russischen Gesellschaft dazu tritt immer offener zutage. Die Dumawahlen 2011 werden hier Weichen stellen, 2012 bestimmt der zukünftige Präsident die Richtung. Meine Hoffnungen ruhen auf Medwedjew!

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Timirjasevez
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