Liebe Anike.
Heute ist ein Mittwoch.
Ich werde zunehmend zum Gespenst, nicht nur wegen fehlender Gliedmaßen. Ich wandele wie als Tote umher, soweit es der Aktionsradius meines Rollstuhles zuläßt. Soziale Kontakte sind weitgehend verwest, die Halbverwesten frieren jetzt zum Jahreswechsel, Winter, ein, Neue gibt es nicht.
Was wird man später über mich sagen, behaupten, wissen?
Ihre Scheidenfrequenz war Zeit ihres Lebens niedrig.
Wer?
Die Vergangenheit ist der passende Ort für sie.
Letzte Woche besuchte ich eine Meldestelle, um meinen abgelaufenen (abgelaufenen - welch ein Hohn) Personalausweis erneuern zu lassen. Robert Canon, mein ausgebildeter Hauskrankenpfleger, war so freundlich, meinen teilverstümmelten Körper dorthin zu fahren. (Ich mußte dafür versprechen, ihm in nächster Zeit mal wieder als zweifelhaftes Modell zur Fotoverfügung zu liegen).
Aufgrund meiner Stumpen habe ich mir vor Monaten eine Art Sitzschale anfertigen lassen, die wie ein Kindersitz im Auto festgeschnallt wird. Dort hinein steckte mich Robert (ich nenne ihn eigentlich nur noch den weichgekochten Bert), damit ich derart gehalten eine Beifahrerin sein kann, die nicht dauernd von ihrem Sitz kippt; die Krankenkassen bezahlen solche Hilfsmittel.
Wenn meine Stumpen dauerhaft hornfrei bleiben und vielleicht mal verheilen, ich meinen Überlebensmut nicht ganz verloren habe, beantrage ich Beinprothesen. Mit denen werde ich kaum laufen können (meine verbliebenen Oberschenkel sind mehr breit als lang, also zu kurz), sie werden wohl eher als optische Retusche oder als zusätzlicher Reiz beim Fotografieren dienen müssen.
Auf der zuständigen Meldestelle schob mich Robert Canon in den Warteraum, zog eine Nummer, klemmte sie mir unter den rechten Stumpf und ging erst einmal eine Zigarette rauchen. Die anderen Wartenden glotzten mich und meine gekürzten Glieder wie fasziniert an, ließen mich beim Aufruf der nächsten Wartenummer vor. Robert war noch nicht zurück und so entriegelte ich die Stuhlbremse und rollerte mich in den zuständigen Dienstbereich. Ein überfreundlicher Beamter, Schnauzbartträger wie Robert, also Ostler, Spießer oder Schwuler, füllte mir das Antragsformular aus, als ob ich armamputiert wäre. Ich wackelte mit meinen Stumpen und ließ es geschehen. Bei der Frage nach meiner Größe stockte er. Es war ihm sichtlich wie peinlich. Er wand sich, ohne seinen gesenkten Blick von meinem Schritt zu nehmen. Also kratzte ich mich provozierend an meiner stillgelegten Muschi, er leckte kurz über seine schmale Oberlippe und blickte mir wieder in meine traurigen Augen.
Wie, groß, ähh, wie lang ich denn nun sei, fragte er. Ich wußte es nicht, ich hatte es nie nachgemessen oder nachmessen lassen. Zu diesem Meßzweck gab es an der Dienstwand ein festgedübelte Meßlatte, die allerdings erst bei 1,40 Meter zu skalieren begann. Früher, mit kompletten Beinen, maß ich knapp 1,70 Meter, jetzt grobschätzte ich mich auf einen Meter, wobei die Frage war, mit Stümpfen oder ohne, denn auf ihnen stehen kann ich ohnehin nicht, zu sehr schmerzend sind die noch offenen Wunden.
Mir war die Angelegenheit lästig geworden, ich rechnete schon mit unsittlichen Angeboten des Beamten, mich im Frühstücksraum von seinen Kollegen ausmessen zu lassen. Aber der Mann mir gegenüber war moralisch unzweifelhaft und kam mir entgegen. Er ließ einfach im Antragsbogen das entsprechende Feld frei und machte weiter, als ob nichts gewesen wäre. Rasch war die Sache dann erledigt und Robert, der mich schon gesucht hatte, übernahm meinen Stuhl und schob mich zurück zu seinen Wagen, steckte mich in die Schale, und fuhr mich heim in meine kleine Behindertenwohnung. Dort hieß er mich den versprochenen Gefallen einlösen, dem ich unlustig nachkam.
Ich muß erst noch die Wörter suchen, dieses wieder eher unangenehme Ereignis beschreiben zu können. Wenn sie da sind, hörst Du wieder von mir. Wenn nicht, auch.
Heute ist ein Mittwoch.
Ich werde zunehmend zum Gespenst, nicht nur wegen fehlender Gliedmaßen. Ich wandele wie als Tote umher, soweit es der Aktionsradius meines Rollstuhles zuläßt. Soziale Kontakte sind weitgehend verwest, die Halbverwesten frieren jetzt zum Jahreswechsel, Winter, ein, Neue gibt es nicht.
Was wird man später über mich sagen, behaupten, wissen?
Ihre Scheidenfrequenz war Zeit ihres Lebens niedrig.
Wer?
Die Vergangenheit ist der passende Ort für sie.
Letzte Woche besuchte ich eine Meldestelle, um meinen abgelaufenen (abgelaufenen - welch ein Hohn) Personalausweis erneuern zu lassen. Robert Canon, mein ausgebildeter Hauskrankenpfleger, war so freundlich, meinen teilverstümmelten Körper dorthin zu fahren. (Ich mußte dafür versprechen, ihm in nächster Zeit mal wieder als zweifelhaftes Modell zur Fotoverfügung zu liegen).
Aufgrund meiner Stumpen habe ich mir vor Monaten eine Art Sitzschale anfertigen lassen, die wie ein Kindersitz im Auto festgeschnallt wird. Dort hinein steckte mich Robert (ich nenne ihn eigentlich nur noch den weichgekochten Bert), damit ich derart gehalten eine Beifahrerin sein kann, die nicht dauernd von ihrem Sitz kippt; die Krankenkassen bezahlen solche Hilfsmittel.
Wenn meine Stumpen dauerhaft hornfrei bleiben und vielleicht mal verheilen, ich meinen Überlebensmut nicht ganz verloren habe, beantrage ich Beinprothesen. Mit denen werde ich kaum laufen können (meine verbliebenen Oberschenkel sind mehr breit als lang, also zu kurz), sie werden wohl eher als optische Retusche oder als zusätzlicher Reiz beim Fotografieren dienen müssen.
Auf der zuständigen Meldestelle schob mich Robert Canon in den Warteraum, zog eine Nummer, klemmte sie mir unter den rechten Stumpf und ging erst einmal eine Zigarette rauchen. Die anderen Wartenden glotzten mich und meine gekürzten Glieder wie fasziniert an, ließen mich beim Aufruf der nächsten Wartenummer vor. Robert war noch nicht zurück und so entriegelte ich die Stuhlbremse und rollerte mich in den zuständigen Dienstbereich. Ein überfreundlicher Beamter, Schnauzbartträger wie Robert, also Ostler, Spießer oder Schwuler, füllte mir das Antragsformular aus, als ob ich armamputiert wäre. Ich wackelte mit meinen Stumpen und ließ es geschehen. Bei der Frage nach meiner Größe stockte er. Es war ihm sichtlich wie peinlich. Er wand sich, ohne seinen gesenkten Blick von meinem Schritt zu nehmen. Also kratzte ich mich provozierend an meiner stillgelegten Muschi, er leckte kurz über seine schmale Oberlippe und blickte mir wieder in meine traurigen Augen.
Wie, groß, ähh, wie lang ich denn nun sei, fragte er. Ich wußte es nicht, ich hatte es nie nachgemessen oder nachmessen lassen. Zu diesem Meßzweck gab es an der Dienstwand ein festgedübelte Meßlatte, die allerdings erst bei 1,40 Meter zu skalieren begann. Früher, mit kompletten Beinen, maß ich knapp 1,70 Meter, jetzt grobschätzte ich mich auf einen Meter, wobei die Frage war, mit Stümpfen oder ohne, denn auf ihnen stehen kann ich ohnehin nicht, zu sehr schmerzend sind die noch offenen Wunden.
Mir war die Angelegenheit lästig geworden, ich rechnete schon mit unsittlichen Angeboten des Beamten, mich im Frühstücksraum von seinen Kollegen ausmessen zu lassen. Aber der Mann mir gegenüber war moralisch unzweifelhaft und kam mir entgegen. Er ließ einfach im Antragsbogen das entsprechende Feld frei und machte weiter, als ob nichts gewesen wäre. Rasch war die Sache dann erledigt und Robert, der mich schon gesucht hatte, übernahm meinen Stuhl und schob mich zurück zu seinen Wagen, steckte mich in die Schale, und fuhr mich heim in meine kleine Behindertenwohnung. Dort hieß er mich den versprochenen Gefallen einlösen, dem ich unlustig nachkam.
Ich muß erst noch die Wörter suchen, dieses wieder eher unangenehme Ereignis beschreiben zu können. Wenn sie da sind, hörst Du wieder von mir. Wenn nicht, auch.