AW: Zwiespalt ist unser Nationalcharakter
Hallo Hartmut
Ja, ich betrachte mich als eingeboren in Elsass oder als Franzose mit enger regionaler Bindung, obwohl ich beinahe in Buenos Aires auf die Welt gekommen wäre. Es reichte dann gerade noch in die Bourgogne, nach Dijon -grins. Aber da ich bis zum 18. Lebensjahr nicht über die Landesgrenze kam und die Kindheit und die ganze Schulzeit bis zum Abitur in Elsass verbrachte, hoffe ich, Dir die Frage beantworten zu können.
Es gibt keinen Zwiespalt der Mentalität. Wir sind Franzosen und werden es bleiben.
Elsass hat eine bewegte Geschichte, war ein Teil des Mittelreiches, durch die Völkerwanderung und alemannische Besiedlung 870 dem Deutschen Reich angegliedert, unter Barbarossa gar Kernland der Macht, später Mittelpunkt des deutschen Humanismus, aber nach der franz. Revolution bildete sich eindeutig das Zugehörigkeitsgefühl zu Frankreich.
Das deutsche Kaiserreich musste gemäss Versailler-Vertrag 1919 das Reichsland Elsass-Lothringen zurückgeben und auch das Dritte Reich wurde 1945 zur Rückgabe gezwungen. Heim ins Reich gibt es für uns nicht mehr. Wozu auch? Die EU ist doch Reich genug!
Elsässer, die die Annektierung 1940 als Kinder erlebten, mussten Deutsch lernen, nach 1945 mussten sie Französisch lernen, was ihnen zwar sprachlich schwer fiel -ihre Eltern kannten grösstenteils kein Französisch, da aber Deutschland im Elsass nach dem Krieg zum Tabu wurde, wurde es auch die Sprache weitgehend. Es ist sicher verständlich, dass das Ansehen Deutschlands und somit auch das Ansehen der deutschen Kultur in dieser Zeit auf dem Nullpunkt war. Als diese Menschen (zweisprachig) in den 60-70ern selber Eltern wurden, sollten die Kinder die Sprache der Grosseltern meist nicht mehr lernen. Die einstige geographische Sprachgrenze existiert somit höchstens noch innerhalb der Generationen. Die Grosseltern bzw. Urgrosseltern sprechen die Dialekte alsacien, francique oder platt, aber es ist kaum als Bekenntnis über die Grenze zu verstehen, obwohl diese Dialekte natürlich eindeutig deutsche Dialekte sind. Als Zugehörigkeitsgefühl oder gar -drang sind sie keinesfalls zu werten, es sind lediglich regionale sprachliche Besonderheiten.
Es gibt, wie in so mancher Region, eine kleine Autonomie-Bewegung, die von den jungen Elsässer+Franzosen nicht gross wahrgenommen wird.
Und es gibt auch Bestrebungen, die Dialekte zu erhalten, weil sie ein Teil unserer Geschichte und unserer Kultur sind. Obwohl sogar Universitäten entsprechende Kurse anbieten, interessiert sich Paris kaum dafür und so wird evtl. sollte sich auch jeder deutsche Politiker, der vielleicht für das Erhalten des Deutschsprachlich-Kulturellen in Elsass eintreten möchte, hüten, das Thema nur laut anzudenken. Was ihm im eigenen Land passieren würde, könntest Du Dir sicher vorstellen -grins.
Das Elsass(-Lothringen) kennt seine Wurzeln und hat kein Problem damit. Die Deutschen haben als freundliche Touristen auch keine Ressentiments zu erwarten, aber sie müssen wissen, dass es mehr gibt als Deutsche und solche, die gerne Deutsche wären
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Trotzdem gibt es zum Glück wieder immer mehr Eltern, die ihre Kinder bilingual aufwachsen lassen, bereits in den Vorschulen.
Beantwortet das Deine Frage?
Grüsse
Jérôme