Hallo Robin,
Nietzsche ist im Grunde nüchtern. Denn als „erster Immoralist“ – so eine Selbstbezeichnung in Ecce homo – versucht er die Prinzipien der Kraft jenseits von „Gut und Böse“ – wie er auch im zitierten Abschnitt konstatiert – zu erahnen. Sein Problem ist natürlich eines der Darstellung, da Art- wie auch Gattungsdifferenzen stets in der Ordnung der Repräsentation bestimmt wurden. Nietzsche versucht eine Differenz jenseits der Ordnung der Repräsentation zu denken, jenseits der Identität des Begriffs, dem Gegensatz der Prädikate, der Analogie des Urteils und der Ähnlichkeit der Wahrnehmung. Immer wenn die Urteilskraft die Differenz zwischen den Gattungen zu bestimmen versucht, tut sie das mittels ihrer Vermögen: des Gemeinsinns und dem gesunden Menschenverstand – sie teilt ein und verteilt und hierarchisiert durch das Maß des Subjekts. Die Differenz wird in der Repräsentation reflektiert und als Gefahr für die Garantie der repräsentativen Ordnung im Begriff identisch gemacht, am Gegensatz des Indifferenten – das Unbestimmte schlechthin - aufgehoben, als Analoges verurteilt oder als Ähnliches wahrgenommen. Die Unterordnung unter diese Ordnung kann natürlich als „moralisch“ aufgefasst werden (im Grunde liegt darin die Kritik Nietzsches an der Philosophie der Kategorien – seit Aristoteles bis zu Kant oder etwa Hegel begründet). Natürlich ist das Pathos, wie auch seine Stilmittel allgemein, ein Versuch, der moralischen Ordnung ihren dunkel-deutlichen Untergrund entgegenzuhalten, das Drama hinter jedem Logos der „ratio“.
Ich stimme deswegen nicht mit dir überein, dass dieses Fragment nicht befähigt, eine Haltung zum Leben zu extrahieren (es stammt übrigens aus dem Nachlass 1884-1885). „Leben“ muss jenseits der Kategorien von Leben und Tod gedacht werden, jenseits von Organischem und Anorganischem (als Art- und Gattungsdifferenzen begriffen). „Als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Eins und 'Vieles'“, es ist das Virtuelle, das sich durch Divergenz und Differenzierung aktualisiert, als Differenzierung stets schöpferisch ist, Ausdruck eines präindividuellen Grundes, der sich nicht auf ein abstraktes Allgemeines reduziert, sondern Verhältnisse und Singularitäten enthält, die die virtuellen und realen Mannigfaltigkeiten charakterisieren. „Leben“ kann sich selbst widersprechen – jede Definition ist moralisch, sie fordert die Logik der Widerspruchslosigkeit in der Ordnung der Repräsentation –, jedoch bejaht es sich am Ende selbst: Leben ist etwas, das keine Rechfertigung (vor den Kategorien der menschlichen Moral) braucht, es rechtfertigt sich selbst. Überdenke deinen Zugang zu Nietzsche. Wenn man die Entwürfe zu seinen Schriften liest oder auch viele Fragmente (auch im Nachlass, auch wenn du nun wegen des angeführten Aphorismus misstrauisch sein wirst), so sind viele Überlegungen übrigens durchaus in sehr „nüchternem“ Ton festgehalten. Nietzsche zu rezipieren, ist ein Abenteuer, auch das Quantum an diversen Interpretationen, die bisher geleistet wurden, ist ein ziemlicher Dschungel. Und wir liebten ihn nicht, forderte er uns zu sehr in der „ratio“ und der Ordnung der Repräsentation befangenen nicht mit seinem „Pathos der Distanz“ – wie er selbst einmal schrieb – heraus.
Nebenbei: Ich hatte geschrieben, dass "Leben" (in Anführungszeichen) "Wille zur Macht" und "ewige Wiederkehr" sei, möchte mich aber dabei nicht erdreisten, auf einem Wissen darum zu beharren, was Leben tatsächlich IST. Denn diese ontologische Frage beruht ja eben auf der oben skizzierten Ordnung der Repräsentation, sie fordert, was ihr vorausgeht. Aber es rumort auch unter ihrer Oberfläche. Nicht umsonst widmeten sich viele wichtige philosophische Strömungen des letzten Jahrhunderts ontologischen Fragestellungen.
@Lilith: Im Grunde muss man die "grossen" Philosophen nicht gelesen haben. Schlussendlich dürfte man - neben dem Input, der uns tagtäglich überschwemmt - immer auch noch selber denken müssen... Stil und Vokabular oder sonstwas konstituieren einen Habitus, mit dem man sich in gewissen sozialen Gruppen besser oder schlechter bewegen kann. Ist alles eine Sache der Gewohnheit - auch die komplexesten Gedanken lassen sich häufig auf ein paar Grundbewegungen reduzieren, meist eignet ihrem Gerüst - einem babylonischen Turm ohne Anfang und Ende - noch eine oder zwei Windungen mehr. Lies am besten das, was dir Spass macht, ist vielleicht am fruchtbarsten...