AW: Was ist Kunst?
Kunst entstammt dem Können. Etymologisch ist uns dieser Fingerzeig gegeben. Dem Können entstammt der Kunstbegriff; dem Können des Menschen, nicht der tierisch-triebhafte Instinkt. Eine Welt ohne Mensch kennt keine Kunst. Das Produkt des Menschen, das Künstliche also, ist Grundvoraussetzung der Kunst - das Künstlerische erzeugt das Künstliche.
Aber Kunst ist keine Einrichtung, welche sich für gesellschaftliche Kreise quasi künstlich installieren ließ. Kunst ist nicht nur jenes, welches sich hier für elitäre Kreise, dort für proletarische Massen in abgestufter, abgewandelter, hier sublimierter, dort rauher Manier darstellt. Dies ist lediglich der beschränkte Raum der Kunst, jenem also, den wir denotativ Kunst nennen. Und doch beinhaltet menschliche Kunst mehr.
Die menschliche Welt ist eine künstliche Welt. Auf eines der drei plessnerschen anthropologischen Grundgesetze anspielend: Der Mensch bewegt sich in „natürlicher Künstlichkeit“. Er – der Mensch – lebt nicht in natürlicher Geborgenheit, im Schoße seiner ummittelbaren Umwelt, sondern er nimmt den „Umweg über künstliche Dinge“. Des Menschen Natürlichkeit ist Künstlichkeit. Er muß fertigen, gleich ob gedanklich oder handwerklich, um seine Natürlichkeit zum Ausdruck zu bringen. So nutzt er nicht die geballte Faust, sondern einen Hammer; sein Obdach ist nicht der Himmel oder die Krone eines Baumes, sondern ein Haus.
Der Mensch ist Kulturträger und Schaffender. Dies setzt ein Wissen, ja, ein Können voraus. Dies Können, diese Kunst folglich, ermöglicht die „natürliche Künstlichkeit“ des Menschenwesens. So nimmt der Mensch das Gegebene an, doch widerstrebt es ihm, zu akzeptieren, was sich ihm darbietet. Er strebt danach, der Formgeber des Gegebenen zu sein, er will künstlerisch tätig werden. Durch Erkennen, Handeln und Gestalten vermittelt er gegenüber der Unmittelbarkeit des Vorgegebenen.
Nach Plessners zweitem Grundgesetz von der „vermittelten Unmittelbarkeit“ auf das dritte und letzte schließend: Der „utopische Standort“. Nicht nur in der realen Welt ist Kunst des Menschen Natürlichkeit. Durch den tiefen, aber natürlich-künstlichen Graben, der den Menschen von seinem Umfeld, der Natur also, trennt, ersinnt er in seiner kreativen Wesensart einen absoluten Weltgrund. Die Kunst offenbart sich religiös; es ist spirituelle Kunst. Der Kern aller Religiosität ist das Muss des Menschen, Künstler zu sein. Gott ist folglich das Künstliche.
Die Frage, wie Kunst zu definieren sei, ist demnach die Frage nach dem Wesen des Menschen. Was hier mit der Frage zur Kunst – im Sinne denotativer Auslegung - geklärt werden sollte, bedarf im strengeren Sinne einer Frage nach Ästhetik. Die Abhandlungen nach der Künstlichkeit der Kunst sind daher unzureichend und behandeln nur den abgegrenzten Raum, welcher in der Alltagssprache „Kunst“ genannt wird. Einer Kunst also, die wir nicht als menschliches Wesensmerkmal, sondern als gesellschaftliche Institution betrachten und verstehen wollen.
Was also ist Kunst? Um der gestellten Frage gerecht zu werden: Die Frage nach der Kunst ist die Frage nach der „natürlichen Künstlichkeit“, nach dem Wesen des Menschen. Wer nach Kunst fragt, fragt daher latent: Wer sind wir? - Die Kunst ist also nicht, wie es meist interpretiert wird, eine Nische gebildeter oder scheingebildeter Menschen, sondern Wesensmerkmal des gesamten Menschengeschlechts.