Gefühle SIND
Also nochmal zu Lilith... wenn es um Gefühle geht, stelle ich bei mir ein gewachsenes Bedürfnis nach Präzision fest. Der "Einklang mit sich selbst und anderen" kann unterschiedliche bedeuten... rein rational kann es bedeuten: wir sind derselben Ansicht. Oder: ich verstehe etwas so, wie es gemeint war. Oder: ich bin authentisch, spiele nicht etwas vor, sondern zeige mich, wie ich bin und sage, was ich wirklich denke. Einklang kann auch bedeuten: wir verstehen uns, was nicht bedeuten muss, immer derselben Meinung zu sein.
Wenn dieser Einklang nicht da ist, möchte ich zwischen Gefühlen und "metakognitiven Empfindungen" unterscheiden, wobei die "metakognitiven Empfindungen" ein wenig gebräuchlicher Begriff sind. Ein nettes Beispiel dazu fand ich einmal bei Polanyi - da hatte einer behauptet, die Trächtigkeitsdauer von Kühen sei immer ein ganzzahliges Vielfaches der Zahl Pi. Das "dumpfe Gefühl, dass das irgendwie nicht stimmen kann" ist ein Beispiel für eine metakognitive Empfindung - das Denken wird durch Empfindungen begleitet, die die "Stimmigkeit" des Denkens oder eines Gedankens beurteilen. Auf den Zusammenhang von Stimme, Stimmung und Stimmigkeit möchte ich hier nur nebenbei verweisen...
Gefühle SIND. Ich halte nicht viel von der bei Transaktionsanalytikern gelegentlich zu findenden Unterscheidung von "echten" und "unechten" Gefühlen und schon gar nichts davon, wenn irgendjemandem eingeredet wird, er oder sie habe "falsche Gefühle". Ich kann mich noch an den Ärger einer etwas älteren Dame erinnern, die mir von ihrer Begegnung mit ihrem Arzt erzählte. Nicht nur, dass sie medikamentenabhängig geworden war, weil sie die verschriebenen Schlaftabletten fleissig genommen hatte, auch die Kopfschmerzen wurden ihr als "Fehler" vorgeworfen. "Bei dem bisschen Hirn, das Sie noch haben, kann doch gar nichts weh tun!". Schmerzempfindungen und Gefühle sind Erlebnismomente und nicht unbedingt an objektive, beobachtbare Sachverhalte gebunden. Angst kann ich auch haben, wenn es "eigentlich keinen Grund dafür gibt". Meine eigene Vorstellung, dass etwas Schlimmes geschehen könnte, ist Grund genug. Und vielleicht lohnt es sich, zu fragen, ob es da eine reale Gefahr gibt - und darüber nachzudenken, welche Schutzmassnahmen sinnvoll sein könnten. Das Gebot "Du sollst nicht fühlen" ist genauso unsinnig wie "Du sollst nicht sehen". Menschen haben Augen im Kopf, damit sie etwas sehen können und Gefühle haben ebenfalls eine wichtige Funktion. Vor allem sind sie SCHNELL. Oft eilen sie den Gedanken voraus und steuern die Intuition, wo klare Fakten noch nicht bekannt sind.
Beziehungsfähigkeit, so meine These, hat viel mit dem Umgang mit Gefühlen zu tun, zeigt sich in der Fähigkeit zu fühlen, Gefühle deuten und untersuchen zu können und auch: ihnen in angemessener Form Ausdruck verleihen zu können.
Wer seine Gefühle ernst nimmt, ist deshalb für mich nicht "unbedarft" - unbedarft sind die anderen, die ihre eigene Emotionaliät leugnen, nicht mit ihr umzugehen gelernt haben oder unter Alexithymie leiden - also ihre eigenen Gefühle nicht spüren (nicht "lesen") können.
lg Methusalem