An alle Leute, die - meist recht unbedarft - von "Bildungswesen", "Bildungssystem" und überhaupt "Bildung" schwadronieren, immer diese erste Frage: Was genau ist damit gemeint?
Diese Begriffe sind dermaßen unscharf, dass jeder, der sie nutzt, zuerst einmal klarstellen sollte, in welcher Bedeutung er sie verstanden wissen möchte.
Das wird ständig und überall behauptet. Fakt ist: Der Lehrer steht vor der Klasse (frontal), aber was er da macht, wie er sich den Schülerinnen und Schülern gegenüber verhält, das steht auf einem gänzlich anderen Blatt.
Ich verstehe ehrlich gesagt wirklich nicht, weshalb öffentliche Kritik an Lehrern diese wie selbstverständlich auf stupide Pauker reduziert. Das ist so, als ob ich jeden Schlüsseldienst (blödes Beispiel, aber mir fällt im Moment kein besseres ein) pauschal als Abzocker oder jeden Koch als Fertigtüten-Aufwärmer bezeichne - Leidenschaft für ihren Beruf ist ihnen qua Definition abzusprechen.
Nein mein Freund. So einfach ist die Wirklichkeit ZUM GLÜCK nicht geartet. Ich hatte eine schwere Schulzeit durchzustehen und musste erst selbst vor Klassen stehen, um zu begreifen, dass dort keine programmierten Pinguine stehen, sondern Menschen wie du und ich, mit allen Stärken sowie Schwächen.
Noch zum Frontalunterricht:
Das ist ein Kampfbegriff aus der Reformpädagogik. Tatsächlich weiß NIEMAND genau, was damit eigentlich gemeint ist. Dass der Lehrer vor der Klasse steht und nicht auf dem Boden liegt oder an der Decke hängt, das sollte aus rein pragmatischen Gründen nachvollziehbar sein. Ein Koch steht ja auch vor dem Herd, ohne dass deshalb ein Begriff wie Frontalkochen irgend einen Sinn ergeben würde.
Die ganzen selbsternannten Bildungsreformer haben in der Regel eines gemeinsam: Keine Ahnung, wie alltäglicher Unterricht an Schulen heute aussieht. Und glaub mir eines: Viele Schülerinnen und Schüler wissen einen guten Lehrervortrag sehr zu schätzen! Als kleines Bonus zwischen all dem Stationenlernen, Gruppengearbeite, Projektunterricht und Lerngezirkele...
"Och nöööö, nicht schon wiiiieder Gruppenarbeit!!!"
Die Frage ist doch gar nicht die, ob "Erziehung" stattfinden sollte oder nicht. Schwerwiegender ist der Umstand, dass die Inhalte derselbigen - abgesehen von Plattitüden - von Interessen abhängig sind, die schwerlich per Gesetz geregelt werden können. Dass die Schule einen "Erziehungsauftrag" hat, ist ein alter Hut und überall nachzulesen.
Reformpädagogische Ansätze behaupten stets, dass das Kind ein Recht auf Selbstentfaltung/Selbsterziehung etc. haben müsse. Auf die Idee, dass man auch mal die Kinder fragen könnte, dass vielleicht nicht jedes Kind gleichermaßen mit offenen Lernformen zurecht kommt und dass hier vor allem erwachsene Kinder ihre privaten Bildungsideale am Kind ausprobieren möchten (und zwar auf deren Kosten), kommen die wenigsten Vertreter dieser weltverbessernden Zunft.
"HOT" (handlungsorientierter Unterricht) ist ein alter Stiefel aus den 70er Jahren, der sich alles in allem in der Praxis nicht bewährte (die großen Versprechungen bis heute nicht einlösen konnte) und des Weiteren theoretisch nach wie vor mangelhaft fundiert ist. Man kann nicht einmal sagen, was "Handlung" überhaupt bedeuten soll. Das ist Fakt - ist in einschlägiger pädagogischer Literatur (z.B. Gudjons) nachzulesen.
Ein verantwortungsbewusster und professioneller Lehrender zaubert heute keine pädagogische Methodenneuheit mehr aus dem Zylinder hervor, sondern beschäftigt sich mit empirischer Unterrichtsforschung und nimmt am fachdidaktischen Diskurs teil. Von selbigem haben Bildungsrevolutionäre freilich auch keinen Schimmer, da sie die vermeintlich einzigen sind, die Missstände erkennen und Lösungen zu bieten haben.
Alle anderen sind offenbar unterbelichtet und fristen eben ihr jämmerliches Dasein, anstatt einfache Lösungen für offensichtliche Probleme zu wählen.
Notengebung ist ein notwendiges Übel und nur Resultat gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse. Nicht Noten gilt es abzuschaffen, sondern den Leistungsvergleich innerhalb der Gesellschaft. Löse dieses "Problem" und die Noten verschwinden umgehend von selbst.
"Ganz neue Wege beschritten"?
In welchem Klassenzimmer steht heute kein Sofa+Bücherecke? Das hatten wir vor über 20 Jahren schon in der Grundschule. Ich wurde auch von der Lehrerin gelobt, da ich mir dicke Bücher mit nach Hause nahm. Trotzdem war ich damals kein guter Schüler. Das Lesen von dicken Abenteuerbüchern ersetzt die Lernmotivation nicht. Ich sehe da keinerlei Zusammenhang zwischen echter Lernhilfe und Sofaecke+Bücherregal etc.
Das ist schlicht falsch.
Bildungspolitik hat immer wieder reformpädagogische Ideen (die zahlreich vorhanden sind und wortreich vertreten werden) aufgegriffen und z.T. massiv unterstützt. An mangelnder staatlicher Unterstützung liegt es definitiv nicht, dass wir heute keinen idealen reformpädagog. Unterricht flächendeckend im Einsatz finden. Grund ist: Mangelhafte Effektivität und Übertragbarkeit, da nicht empirisch fundiert.
Das nennt sich auch - fachbegrifflich - "gesellschaftliche Reproduktion". Wenn Schule ein Ort sein soll, der nicht ideologisch (von religiösen Vorstellungen und lebensphilosophischen Idealismen) durchsetzt ist und den Lernenden also einen freien "Geist" ermöglicht, dann ist es sogar wichtig, dass "Wissen" im Sinne von intersubjektiv nachvollziehbaren Inhalten die Lehrpläne bestimmt und nicht vage Ideen von "Lebenskunst", "Potentialentfaltung" oder was weiß ich. Das klingt nur hübsch und nett, ist aber praktisch von beliebiger Gestalt und also gefährlich.
Und woher wissen wir, was funktioniert?
Sicherlich nicht aus genialen Einfällen einzelner Berufener, sondern aus seriöser und nachhaltiger empirischer Forschung. Alles andere ist unseren Kindern gegenüber schlicht VERANTWORTUNGSLOS!
Leute, wacht endlich auf!
Ein leidenschaftlicher Lehrer