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Hallo Marianne,


zufällig habe ich in einer schweizerischen Zeitung, die ich sonst kaum lese ("SonntagsBlick" vom 23. April 2006), auch ein Interview mit M. Gorbatschow (M. G.) gelesen. Ich möchte es auszugsweise wiedergeben und teilweise kommentieren.


Frage: Herr Präsident, wie erfuhren Sie von der Katastrophe in Tschernobyl?


M. G.: Beim ersten Anruf morgens um fünf war die Rede von einem schweren Zwischenfall im vierten Reaktorblock. Es hiess jedoch, der Reaktor sei intakt.


Einwand: Was aber nicht stimmte!


M. G.: Bis zum Abend des 26. April hatten wir ja keine Ahnung, dass der Reaktor explodiert und grosse Mengen radioaktives Material in die Atmosphäre entwichen waren.


Mein Kommentar: Die Verantwortlichen des KKW Tschernobyl und andere haben gegenüber der Regierung die Lage bewusst verharmlost. Dass der Reaktor am 26.4.86 gegen 01:30 Uhr explodiert war, war vor Ort evident. Dass die Notkühlung nicht mehr funktionieren und somit der Reaktorkern schmelzen würde, wodurch weiter riesige Mengen an Radioaktivität freigesetzt würden, dürfte vorort ebenfalls klar gewesen sein.


Frage: Was war ihre erste Reaktion?


M. G.: Ich war verblüfft. Die Experten hatten unsere Atomkraftwerke immer als absolut sicher bezeichnet. Ein Atomreaktor mitten auf dem Roten Platz - so hiess es stets - wäre nicht gefährlicher als ein Samowar.


Frage: Und wie reagierte die Führung der Sowjetunion?


M. G.: Wir setzten sofort eine Regierungskommission ein, um die Ursachen des Unglücks zu untersuchen und die Rettungs- und Aufräumarbeiten zu überwachen ...


Frage: Tschernobyl war der GAU, der grösste anzunehmende Unfall in der Geschichte der zivilen Atomnutzung. Und Sie setzten Kommissionen ein?!


M. G.: Heute ist klar, dass wir schneller hätten reagieren müssen. Aber vor Ort wurde ja intensiv gearbeitet ... Und natürlich das Wichtigste: die Evakuierung - zuerst der Einwohner von Pripyat schon am Tag nach der Katastrophe und Ende Mai dann aller Menschen in einem 30-Kilometer-Radius.


Mein Kommentar: Die Evakuierung der Einwohner von Pripyat (49'000 Leute), einer 3 km vom Reaktor entfernten Stadt, wurde am Abend des 26. April beschlossen. Der Evakuierungsbeschluss wurde am folgenden Vormittag um 11:00 Uhr bekannt gegeben, und Pripyat wurde innerhalb von 2,5 Stunden geräumt (Transport mit 1'200 Bussen)!

Ein Fehler war allerdings die späte Verteilung - erst eine Woche nach dem Unfall - von Jodtabletten an die Menschen in den kontaminierten Gebieten und die verzögerte Räumung der Dörfer in der 30-km-Zone um den Reaktor, also erst 4 Wochen nach dem Unfall.


Frage: Hat man Sie in diesen Tagen immer korrekt informiert?


M. G.: Ich glaube ja. Zu Beginn wussten nicht einmal die Experten Bescheid ... Der eine oder andere Funktionär mag seine Berichte geschönt haben. Aber ich glaube nicht, dass ich bewusst belogen wurde.


Mein Kommentar: Sicher wussten die Experten zu Beginn nicht, wie die Katastrophe zustande gekommen war. Aber dass sie nicht gewusst hätten, was ein explodierter Kernreaktor für eine Gefahr darstellt, kann ich nicht glauben! Glaubhaft ist allerdings, dass die Experten nicht mit einer Ausbreitung der Radioaktivität über grosse Entfernungen (bis 2'000 km) rechneten, sondern eher an eine Ausbreitung über einige zehn Kilometer.


Frage: Als Sie das höchste Amt der Sowjetunion antraten, hatten Sie "Glasnost" angekündigt, Offenheit. Für Tschernobyl galt Ihre Maxime aber nicht.


M. G.: Weil wir die 1.-Mai-Paraden in Kiew und Minsk nicht absagten? Ersten war uns das volle Ausmass der Katastrophe noch nicht bewusst. Aber wir hatten auch Angst vor einer Panik. Die Konsequenzen wären nicht absehbar gewesen. Ich gebe zu: Das war ein schwerer Fehler.


Mein Kommentar: Glasnost kann man nicht so einfach durchsetzen. Nach 1 Jahr Amtszeit von M. G. hat sich in Funktionärskreisen wahrscheinlich kaum etwas in Richtung Glasnost getan.


Frage: Sie liessen sich drei Wochen Zeit, bevor Sie die Öffentlichkeit informierten.


M. G.: Zwei Tage nach dem Unfall gab es eine kleine Meldung in der Zeitung "Prawda" (dtsch.: "Wahrheit"). Doch um im Fernsehen zu den Menschen sprechen zu können, brauchte ich eine genaue Analyse der Ereignisse.


So weit Auszüge aus dem Interview.


Die ersten westlichen Experten, die die Situation begutachteten, haben inzwischen erkannt, dass das sowjetische technische Krisenmanagement trotz einiger Fehler nicht so schlecht war.


Der Preis für die Katastrophe von Tschernobyl war unglaublich hoch. Eine solche Katastrophe darf sich nicht wiederholen! Deshalb wurde nach dem Unfall von Tschernobyl eine Vielzahl von Massnahmen zur Vermeidung von Unfällen in KKW getroffen. Die Bedeutung von Mensch und Organisation für die KKW-Sicherheit erhielt mit dem Konzept der Sicherheitskultur den angemessenen hohen Stellenwert.


Gruss

Hartmut


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