-Super short stories-
Folge 4
Luftreibung
„Immer wenn ich im Flugzeug sitze, fühle ich den Druck. Aber es ist nicht der Druck, den andere Leute fühlen, wenn sie in einem Flugzeug sitzen. Die fühlen nur den einfachen Druck. Ein taubes Gefühl stellt sich ein und der Kopf scheint in Watte gepackt zu sein. Dieses wohlige Gefühl, die Dinge nicht so nahe an einem herum zu spüren habe ich auch. Alles ist in Abstand geraten, als ob Bienen in unendlicher Ferne summen. Nichts ist aufdringlich und man spürt nur den Druck im Kopf. Wie er alles Nichtige verdrängt. Wenn ich im Flugzeug sitze und die ersten paar tausend Meter Höhenunterschied hinter mich gebracht habe, scheine ich in einem merkwürdigen Aspekt meiner selbst frei zu sein. Diese Freiheit ist es, die mich immer wieder dazu zwingt in ein Flugzeugzeug zu steigen.
Mittlerweile ist ein Jahr vergangen und meine Sucht wurde immer größer. Die Sucht nach diffuser Ablenkung wie sie nur ein Flug in zehntausend Metern Höhe ermöglicht. So fing alles an. Ich war ein Flugjunkie, mit zwei Flügen im Monat. Jedesmal dieselben tausenden Meter über der Erde, doch innerlich um sovieles höher. Der Abstand zu Allem. Taubheit und das Gefühl von Kontrollverlust waren längst nicht mehr mein alleiniger Antrieb. Viel schöner wäre es, andere miteinzubeziehen. Und somit wirklich authentisch zu schreiben.
Doch ich war passiv. Obwohl hundertsiebzig Seelen an der Seite, ein Griff in den Koffer und die Macht alles zu beenden. Allein der Gedanke daran, ist für jeden verlockend. Sagen sie nicht es würde sie nicht reizen. Stellen sie sich bitte vor, sie reisten in dreitausend Metern Höhe mit 150 Leuten in einem Flugzeug und sie hätten die Macht, es zu beenden. Es ist reizvoll in einer Art.
Wenn sie jemals in einem Wald spazieren gingen und auf einen Ameisenhügel stießen, ließe sich da etwa nicht ein Vergleich ziehen? In der Hand eine Fackel und im Kopf die süße Verlockung. In zehn Jahren wächst anstelle des Ameisenhügels eine junge Eiche. Vielleicht existiert dort auch mittlerweile ein neuer Ameisenhügel. Niemand wird sich die vergangenen Ameisen erinnern. Waren Sie Individuen? Sie existierten und verlöschten. Dazwischen der taube Druck eines Passagiers mit einer Fackel und der Freiheit alles zu tun.
Früher habe ich Kurzgeschichten verfasst. Sie waren eine Ausdrucksform abseits zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Ausweg in heilende Selbstbefreiung. Doch irgendwann kommt jeder Schreiber dahinter, eine reine bildhafte Umschreibung wirkt einfach nicht unendlich lange. Was bringt es, nur darüber zu schreiben? Diese vielen armseligen Schreiberlinge überall auf der Welt sehnen sich nach Anerkennung Ihrer Texte? Das allein ist es nicht. Sie lechzen nach Anerkennung ja, doch ihre wahren Motive erschliessen sich nicht aus ihren Texten, diese Motive bleiben ungedruckt. Versiegen zwischen den Tastenanschlägen, denn wie könnten Worte allein ein Gemüt beschreiben, das nach wirklicher Unsterblichkeit schreit? Ein Problem, dessen jeder Autor sich irgendwann bewusst wird. Nur einige winige gehen den Schritt in die Realität, erheben sich von der Tastatur und beginnen ihre Visionen in die Tat umzusetzten. Diejenigen, welche nicht dabei erwischt werden, schreiben anschließend die besten Sachen. Sie erheben sich in ihrem Schreiben über Kunst, Moral und dem Verglimmen ihrer Geliebten. Denn zu diesem Zeitpunkt haben sich Verwandte und Freunde schon längst einen sicheren Platz gesucht. Weitab vom Psychotischen, welches den Autor mit samtigen Pfoten umschlingt. Wir fühlen uns wohl und steigen in ein Flugzeug, das ist alles. Auch ich sitze einem Flugzeug. Und schreibe am finalen Kapitel meiner letzten Geschichte.
Die Passagiee wissen von nichts. Sie denken an die letzten Momente mit ihren Freunden am Checkin oder sinnieren über die zu erwartende Wiedersehensfreude am Zielflughafen. Ein Wiedersehen mit der unbedeutenden Existenz in ihrem fauligen Nest der Gewohnheit. Sie wissen wirklich von nichts und suchen interessiert mit der kostenlosen Zeitung unter dem Arm ihren Sitzplatz. Ich beobachte sie: Da, eine Ameise in Nadelstreifen, wie sie zielstrebig ihren zugewiesenen Platz ansteuert. Mit der Maske der Unsterblichkeit im Gesicht. Er wird nicht mal begreifen, weshalb ihn das Schicksal in 45 Minuten aus seiner Sicherheit reißt und seine Überreste auf eine kilometerweite Fläche verteilt. Sein Handelsblatt wird als erstes Feuer fangen, dann sein schöner Anzug. Die Seide wird sich in einer Sekunde mit seiner Haut verschweißen. Nun, vielleicht auch nicht. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wie ein soetwas abgeht. Womöglich reißt es ihn auch nur in Stücke. Oder die angeschnallte Hälfte wird mit dem Sitz eine skulpurartige Einheit bilden. Weil der Sitz vor ihm aus der Verankerung reißt und seinen Oberkörper in Richtung Toiletten befördert. In diesem Moment tönt aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs ein Stimmengewirr. „Ich warte schon seit zehn Minuten. Sind sie auch igendwann mal fertig?“ Ich muss kurz schmunzeln.
In 25 Minuten wird dieser Bereich einer Leinwand gleich, mit dutzenden abgetrennter Extremitäten, Organen, Hektolitern von Blut und schmorendem Plastik bombardiert werden. Natürlich nur für eine Sekunde, bevor der Druckausgleich alles nicht Angeschraubte wegfegt. Dann folgen zehn Minuten Absturzphase. Wenn der Pilot, bzw, eine Pilotenkanzel noch vorhenden wäre, so wären es zwischen 40 und 60 Minuten. Solange dauerte es, bis dieser Flug sein Ziel ereichen würde. Heute werden wir die die Abkürzung nehmen. Mit anderen Worten, short way - direkt approach. 120 mal neun Liter Blut in der Luft geronnen bilden das letzte Kapitel, in welchem die Visionen endlich frei werden, sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen und dem Übergang der Fiktion in die Realität.
Vielleicht wird ein naher Vogelschwarm durch die Erschütterung der unteren Stratosphäre verwirrt werden. Oder durch den Duft ders verbranntem Kerosins und der verglühenden Überreste der Passagiere seine Richtung ändern? Wer weiß das schon. Es interessiert auch nicht, denn der Autor übertrat dann bereits die Grenze vom Beobachter zum Akteur, zum Initiator.
Es ist 16:00 und ich stehe in der Schlange der Wartenden am Checkin.“
Als Martha diese Zeilen las, fragte ich mich, was wohl wirklich in ihrem Kopf vorging. Ich hätte so gern den glühenden Ausdruck in ihren Augen gesehen, wie sie in früheren Jahren Geschichten von mir las. Doch ich sehe nur noch Gutmütigkeit. Bemüht das Desinteresse verträglich zu verpacken und mir das Gefühl von Anerkennung zu geben, welches sie nicht wirklich empfindet.
„Deine Geschichten bringen uns kein Geld. Armselige Kopien und ich verlasse dich besser!“
„Was sagtest du?“ fragte ich stotternd.
„Deine Geschichten sind gut, ich hoffe du findest bald einen Verleger. Ich liebe dich, vergiss das nicht.“
„Ahh, gut, äh ich meine ich liebe dich auch. Ach, fuck, ich war grad irgendwo anders, tut mir leid.“
Sie schaute mich voller Mitleid an und ich ertrug das kaum. „Ich hab’ dich immer unterstützt, aber du musst was tun, das uns am Leben erhält. Ich tue es auch, oder nicht?“ Sicher tat sie das. Sie war der stellvertretende Leiter eines Supermarktes, mit nicht gerade einem bescheidenem Gehaltsscheck am Monatsende. Es war ok und ermöglichte mir schließlich die vielen Flüge, welche ich zur Zeit als Inspiration brauchte. Die Inspiration eines Künstlers, der ohne sie aufgeschmissen wäre.
„Schreib irgendwas, was sich verkauft. Ich bitte dich!“
„Ich kann nicht schreiben mit dem Hintergedanken an einen verdammten Verkauf!“
„Aber mit dem Hintergedanken an die Flasche Vodka und das Ticket kannst du’s, oder?“
Ich warf einen verstohlenen Blick zum Boden. Sie hatte recht. Flüge und Vodka waren der zentrale Mittelpunkt meiner Gedanken in den letzten sechs Monaten. Aber ich war so knapp davor, meinen unausprechlichen Wahn in Worte zu packen. Und dann würdest du in Ruhm gebadet, mein Schatz. Dein Warten Martha, wird sich ausgezahlt haben.
„Gib mir noch ein paar Monate, ich bin so kurz davor die richtigen Worte zu finden. Ich spüre es!“
Sie würde mich noch immer mit einem gutmütigen Blick ansehen. Zumindest hoffte ich das. Doch es kam nur ein ein müder Blick von ihr. Ein verhaltenes Lächeln, wie ein „Wie war dein Tag?“-Lächeln.
Sie ging aus der Wohnung und wie die unzähligen anderen Tage blieb ich mit steinerner Mine und dem Blick in eine aufgehende Sonne, deren Strahlen die Schatten meiner lieben Martha in meiner Erinnerung an den Boden und die Wand zeichneten. Als ob sie noch nicht gegangen wäre, kreisten meine Gedanken um sie, um uns und unsere Beziehung, welche längst nicht mehr von Verständnis geprägt war.
Als sie abends von der Arbeit heimkehrte, saß ich auf dem Balkon und starrte in die untergehende Sonne.
„Was hast du denn heute geschrieben? Ihr Hohn verdüsterte meine Gedanken nur kurz. „Ich hab’ heute zwei Seiten geschrieben.“, krächste ich mit rauhem Hals. Zuviel auf dem Balkon gesessen, oder zuviel geraucht oder zu viel getrunken oder alles zusammen. Sie streifte mich mit einem nichtssagendem Blick als ob sie sich vergewisserte, dass die Pflanzen noch genügend Wasser hätten.
„So, zwei Seiten. Ich hab heute eine ganze Abteilung umstrukturiert. Weshalb ich auch einen zwölf Stunden Tag hatte. Falls dir das aufgefallen ist.“
Ist mir in der Tat aufgefallen. Normalerweeise kommt sie nach Hause, wenn ich die erste Seite roh geschrieben habe und sie gerade in eine für andere verständliche Form bringe. Eine Seite pro Tag ist nicht der Hit, aber ich sitze auch nicht im fucking Kolumbien unter einer Ballustrade und schaue auf bewaldete Bergketten, sondern auf eine Betonfront in 15 Metern Entfernung.
„Ich liebe dich“, warf ich geistesabwesend in den Raum.
„Ich weiß“, kam als Antwort.
„Heute hab' ich es mit der Nachbarin von gegenüber mal so richtig getrieben. War echt gut!“, rief ich hinterher.
„Ja, zwei Seiten, bin stolz auf dich.“
Ich stellte das Glas zur Seite und überlegt ob ich springen sollte. Dritter Stock ist nicht genug, dachte ich und goss mir noch einen ein. Vielleicht bringt die Nacht das, was der Abend mit seiner verächtlichen Fratze mir nicht gönnte. Frieden, Anerkennung oder was auch immer. Ich würde nicht schlafen können.
Die Sonne schien gerade erst aufgegangen zu sein, doch strahlte sie mit herzloser Intensität in unsere staubige Zwei-Zimmer Wohnung.
Es war verdammt spät. Mein Flug ging um 15:20 und ich hatte noch knappe 30 Minuten um einzuchecken. Als ich mich auf dem Sofa aufrichtete schrie sich Martha die Lunge aus dem Leib. Ich hatte wohl gestern abend den Toaster wieder mal mit Papier gefüttert. Das passiert mir manchmal, wenn nichts Brauchbares in Stunden alkoholgetränkter Schriftstellerei zusammenkommt. Wenn ich Schrott schreibe, nehme ich die Seiten, stopfe sie in unseren Toaster und schleppe ihn auf den Balkon um den Riegel herunterzudrücken. Nachbarn haben wir ja nicht. Zumindest nicht mehr.
„Ich fasse es nicht, erklär mir das!“, schrie sie mich an. Eine Hand in ihren zerzausten Haaren und in der anderen ein völlig verschmortes, schwarzes Etwas, das einmal unserer Toaster war. „Reg dich ab, Ich kauf uns einen neuen“, entgegnete ich. „Das wär’ dann der dritte in sechs Monaten? Und wovon willst Du den denn bezahlen. Falls es dir entgangen ist, ich arbeite und gebe dir alles und du, ja du... tust eigentlich gar nichts, außer im, im Rausch unseren Balkon abzufackeln! Verdammt, ich kann nicht mehr“, Ihre Stimme zitterte und sie verhaspelte sich. Das Sonnenlicht strahlte sie von hinten an und sie erinnerte mich mit ihrem Gesichtsausdruck an einen Clown, dem während seiner Darbietung jemand sagt, seine Familie wäre bei einem Brand ums Leben gekommen. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr irgendwie, ihre Lippen bebten und ihre Augen schienen brennende Pfeile zu verschießen. Irgendwie schien in diesem Moment die Frau die ich liebte, sehr fern zu sein. Verkommen zu einer hysterisch wütenden Frau mit brennenden Haaren und einem schmorenden, schwarzen Ding in der Hand. Ich überlegte kurz, ob dieses Bild für eine Kurzgeschichte etwas hergeben könnte, verwarf den Gedanken dann aber.
„Es ist doch nur ein Toaster“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Die Welt drehte sich gestern, zu seinen Lebzeiten, sie dreht sich heute, sodaß mir schlecht wird und wird sich auch morgen noch drehen. Wenn dein Leben so übel ist, lass’ es nicht einem verkohlten Toaster und an mir aus.“ Langsam hatte ich genug, denn ich verstand nicht ganz warum diese Frau wegen eines Toaster so eine Wut entwickeln konnte. Sie spürte meine Ignoranz wohl sofort und knallte die Überreste des Geräts gegen die Wand hinter mir. Das Ding zerbarst in mehrere Teile, wovon mich eins an der Schläfe traf und eine dünne Rauchspur hinter sich her ziehend, hinter dem Sofa verschwand. Die Stelle an meiner Schläfe prickelte und sogleich kitzelte mich etwas Kaltes dort. Eine wunderbare Art einen Tag zu beginnen. Ich warf einen kurzen Blick zur Vodkaflasche im Regal.
Martha stapfte an mir vorbei. Ob sie von ihrem blutenden Lebensgefährten dabei Notiz nahm wusste ich nicht, war mir auch schon egal.
Als die Haustür laut krachend ins Schloss fiel, hörte ich wie Glas zerbrach. Das war wohl die Schale auf der Anrichte, welche Duftblüten beherbergte, die längst nur noch den abgestanden Geruch der Wohnung speicherten. Keine Ahnung, warum sie die nicht längst weggeworfen hat. Wahrscheinlich dachte sie, diese verstaubten Blüten könnten den Duft von längst vergangenen Zeiten eines Tages freisetzen. Was mich anging, war alles Übriggebliebene unserer Beziehung das verkohlte Ding in ihrer Hand gewesen.
Ich blickt zum Sofa hinüber. Keine Rauchwolken die dahinter aufstiegen, also mochte das Bruchstück des Küchengerätes, welches ein so treffendes Bild unserer Beziehung beschrieb, wohl abgekühlt sein.
Ich ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel. Eine kleiner roter Fleck auf meinem Kragen und eine dünne Spur geronnen Blutes in einem Gesicht, welches mal einem erfolgreichen Schriftsteller hätte gehören sollen, blickte mich aus leeren verqollenen Augen an. Was, wenn das Stück des Toasters hinter dem Sofa nicht ausgegangen ist und die sicherlich zentimeterdicken Staubflocken entzündet?, dachte ich.
Kleine, schwelende Staubflöckchen, die sich durch den Wind der immer noch offenen Balkontür entzünden und auf das Sofa übergreifen. Von dort aus auf die Vorhänge und das Regal. Dabei sah ich im Spiegel einen Ausdruck von versiegten Träume in einem fahlen zerrütteten Gesicht.
Jetzt könnte das Sofa bereits in Flammen stehen. War ein Geschenk meiner Schwiegermutter und entsprach in seiner Farbgebung ihrer farblosen und ebenso geschmacklosen Persönlichkeit. Es besaß eine Musterung, welche an einen blubbernden Waschkessel errinnert. Ich drehte den Wasserhahn auf. Es gluckerte in den Leitung als ob sie aus der Wand springen würden.
Ein Griff zur Zahnbürste und die Gedanken an unsere Vorhänge.
Aus welcher Art Stoff waren die eigentlich gemacht? Ich blickte wieder in den Spiegel und als mich gerrötete, feuchte Augen anblickten, denen jegliche Illusion fehlte, wusste ich nicht mehr welche Farbe die Vorhänge überhaupt hatten. Wenn sie doch nur brennen würden.
Der Schein des Feuers funkelte mir im angelaufenen Spiegel entgegen. Oder war es die aufgehende Sonne? Würde ich mich umdrehen? Sicher, wenn mir die Flammen in den Rücken schlagen, aber vorher nicht.
Ich drückte den letzten, vertrockneten Rest Zahnpasta auf die Bürste und führte sie zum Mund. Sie roch nach schmorendem Plastik, herb, säuerlich und erdrückend, wie Erbrochenes auf einer Herdplatte wohl riechen würde. Es war kein Geruch, der mich in dieser Situation noch anwidern könnte.
Wieder ein helles Flackern aus dem Raum hinter mir. Sicher nur ein Bewohner des gegenüberliegen Hauses, der seine Fenster öffnete.
Ich spuckte ins Waschbecken. Als ich hochblickte, waren meine Augen wieder trocken. Vielleicht sollte ich mich mal wieder rasieren. Obwohl ein gepflegter sechs Tage Bart ein gewisse Aura von Unabhängikeit signalisierte. Womöglich trägt er aber auch, in Verbindung mit dezentem Körpergeruch und schlechtem Atem zu einer eher ungünstigen Aura bei. Nun, der Atem war jetzt um einiges frischer. Ich werde mich rausputzen, alles Unvollkommene ablegen, mit der Austrahlung eines Immobilienmaklers, perfekt wie ich nie sein wollte. Einer gründlichen Rasur, dem Rasierwasser, einem Geschenk meiner einst so geliebten Martha, rieche ich nach Kelvin Klein und marschiere in meinem besten Anzug aus unserer brennenden Wohnung.
Mit einem gewinnenden Lächeln steige ich noch heute in ein Flugzeug. Ich werde anderen Anzugträgern auffallen, denn ab heute gehöre ich zu euch. Alleinerziehende Mütter mir ihren Kindern werden mit mir ins Flugzeug steigen. Sie werden den gebührenden Abstand zu einem erfolgreichen Menschen halten, den ich sicherlich prima abgebe. Oh, eine Rasur, eine teures Rasierwasser und ein guter Anzug reichen dafür nicht. Du brauchst die Austrahlung des völligen Abstands zu allem. Während sich die Bücher im Regal eins nach dem anderen in glühende Fetzen verwandelten, trifft mein letzter Blick die Duftblüten am Boden, als ich aus der Tür gehe. Ob meine Martha wohl deshalb die Blüten über die vielen Jahre aufhob? Damit sie im letzten Moment den Duft des konservierten Blütenstaubs im Feuer unserer Hoffnungen, unserer Zuversicht in die Zukunft freisetzten?
Im Fahrstuhl stehend, stecke ich mir die Ohrhörer ein. Gute Musik, ein feiner Duft eines teuren Rasierwassers und in der Hand ein Flugticket. Heute schreibe ich meine letzte Geschichte aber die ist wenigstens echt.
[fuel.]
Folge 4
Luftreibung
„Immer wenn ich im Flugzeug sitze, fühle ich den Druck. Aber es ist nicht der Druck, den andere Leute fühlen, wenn sie in einem Flugzeug sitzen. Die fühlen nur den einfachen Druck. Ein taubes Gefühl stellt sich ein und der Kopf scheint in Watte gepackt zu sein. Dieses wohlige Gefühl, die Dinge nicht so nahe an einem herum zu spüren habe ich auch. Alles ist in Abstand geraten, als ob Bienen in unendlicher Ferne summen. Nichts ist aufdringlich und man spürt nur den Druck im Kopf. Wie er alles Nichtige verdrängt. Wenn ich im Flugzeug sitze und die ersten paar tausend Meter Höhenunterschied hinter mich gebracht habe, scheine ich in einem merkwürdigen Aspekt meiner selbst frei zu sein. Diese Freiheit ist es, die mich immer wieder dazu zwingt in ein Flugzeugzeug zu steigen.
Mittlerweile ist ein Jahr vergangen und meine Sucht wurde immer größer. Die Sucht nach diffuser Ablenkung wie sie nur ein Flug in zehntausend Metern Höhe ermöglicht. So fing alles an. Ich war ein Flugjunkie, mit zwei Flügen im Monat. Jedesmal dieselben tausenden Meter über der Erde, doch innerlich um sovieles höher. Der Abstand zu Allem. Taubheit und das Gefühl von Kontrollverlust waren längst nicht mehr mein alleiniger Antrieb. Viel schöner wäre es, andere miteinzubeziehen. Und somit wirklich authentisch zu schreiben.
Doch ich war passiv. Obwohl hundertsiebzig Seelen an der Seite, ein Griff in den Koffer und die Macht alles zu beenden. Allein der Gedanke daran, ist für jeden verlockend. Sagen sie nicht es würde sie nicht reizen. Stellen sie sich bitte vor, sie reisten in dreitausend Metern Höhe mit 150 Leuten in einem Flugzeug und sie hätten die Macht, es zu beenden. Es ist reizvoll in einer Art.
Wenn sie jemals in einem Wald spazieren gingen und auf einen Ameisenhügel stießen, ließe sich da etwa nicht ein Vergleich ziehen? In der Hand eine Fackel und im Kopf die süße Verlockung. In zehn Jahren wächst anstelle des Ameisenhügels eine junge Eiche. Vielleicht existiert dort auch mittlerweile ein neuer Ameisenhügel. Niemand wird sich die vergangenen Ameisen erinnern. Waren Sie Individuen? Sie existierten und verlöschten. Dazwischen der taube Druck eines Passagiers mit einer Fackel und der Freiheit alles zu tun.
Früher habe ich Kurzgeschichten verfasst. Sie waren eine Ausdrucksform abseits zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Ausweg in heilende Selbstbefreiung. Doch irgendwann kommt jeder Schreiber dahinter, eine reine bildhafte Umschreibung wirkt einfach nicht unendlich lange. Was bringt es, nur darüber zu schreiben? Diese vielen armseligen Schreiberlinge überall auf der Welt sehnen sich nach Anerkennung Ihrer Texte? Das allein ist es nicht. Sie lechzen nach Anerkennung ja, doch ihre wahren Motive erschliessen sich nicht aus ihren Texten, diese Motive bleiben ungedruckt. Versiegen zwischen den Tastenanschlägen, denn wie könnten Worte allein ein Gemüt beschreiben, das nach wirklicher Unsterblichkeit schreit? Ein Problem, dessen jeder Autor sich irgendwann bewusst wird. Nur einige winige gehen den Schritt in die Realität, erheben sich von der Tastatur und beginnen ihre Visionen in die Tat umzusetzten. Diejenigen, welche nicht dabei erwischt werden, schreiben anschließend die besten Sachen. Sie erheben sich in ihrem Schreiben über Kunst, Moral und dem Verglimmen ihrer Geliebten. Denn zu diesem Zeitpunkt haben sich Verwandte und Freunde schon längst einen sicheren Platz gesucht. Weitab vom Psychotischen, welches den Autor mit samtigen Pfoten umschlingt. Wir fühlen uns wohl und steigen in ein Flugzeug, das ist alles. Auch ich sitze einem Flugzeug. Und schreibe am finalen Kapitel meiner letzten Geschichte.
Die Passagiee wissen von nichts. Sie denken an die letzten Momente mit ihren Freunden am Checkin oder sinnieren über die zu erwartende Wiedersehensfreude am Zielflughafen. Ein Wiedersehen mit der unbedeutenden Existenz in ihrem fauligen Nest der Gewohnheit. Sie wissen wirklich von nichts und suchen interessiert mit der kostenlosen Zeitung unter dem Arm ihren Sitzplatz. Ich beobachte sie: Da, eine Ameise in Nadelstreifen, wie sie zielstrebig ihren zugewiesenen Platz ansteuert. Mit der Maske der Unsterblichkeit im Gesicht. Er wird nicht mal begreifen, weshalb ihn das Schicksal in 45 Minuten aus seiner Sicherheit reißt und seine Überreste auf eine kilometerweite Fläche verteilt. Sein Handelsblatt wird als erstes Feuer fangen, dann sein schöner Anzug. Die Seide wird sich in einer Sekunde mit seiner Haut verschweißen. Nun, vielleicht auch nicht. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung wie ein soetwas abgeht. Womöglich reißt es ihn auch nur in Stücke. Oder die angeschnallte Hälfte wird mit dem Sitz eine skulpurartige Einheit bilden. Weil der Sitz vor ihm aus der Verankerung reißt und seinen Oberkörper in Richtung Toiletten befördert. In diesem Moment tönt aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs ein Stimmengewirr. „Ich warte schon seit zehn Minuten. Sind sie auch igendwann mal fertig?“ Ich muss kurz schmunzeln.
In 25 Minuten wird dieser Bereich einer Leinwand gleich, mit dutzenden abgetrennter Extremitäten, Organen, Hektolitern von Blut und schmorendem Plastik bombardiert werden. Natürlich nur für eine Sekunde, bevor der Druckausgleich alles nicht Angeschraubte wegfegt. Dann folgen zehn Minuten Absturzphase. Wenn der Pilot, bzw, eine Pilotenkanzel noch vorhenden wäre, so wären es zwischen 40 und 60 Minuten. Solange dauerte es, bis dieser Flug sein Ziel ereichen würde. Heute werden wir die die Abkürzung nehmen. Mit anderen Worten, short way - direkt approach. 120 mal neun Liter Blut in der Luft geronnen bilden das letzte Kapitel, in welchem die Visionen endlich frei werden, sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen und dem Übergang der Fiktion in die Realität.
Vielleicht wird ein naher Vogelschwarm durch die Erschütterung der unteren Stratosphäre verwirrt werden. Oder durch den Duft ders verbranntem Kerosins und der verglühenden Überreste der Passagiere seine Richtung ändern? Wer weiß das schon. Es interessiert auch nicht, denn der Autor übertrat dann bereits die Grenze vom Beobachter zum Akteur, zum Initiator.
Es ist 16:00 und ich stehe in der Schlange der Wartenden am Checkin.“
Als Martha diese Zeilen las, fragte ich mich, was wohl wirklich in ihrem Kopf vorging. Ich hätte so gern den glühenden Ausdruck in ihren Augen gesehen, wie sie in früheren Jahren Geschichten von mir las. Doch ich sehe nur noch Gutmütigkeit. Bemüht das Desinteresse verträglich zu verpacken und mir das Gefühl von Anerkennung zu geben, welches sie nicht wirklich empfindet.
„Deine Geschichten bringen uns kein Geld. Armselige Kopien und ich verlasse dich besser!“
„Was sagtest du?“ fragte ich stotternd.
„Deine Geschichten sind gut, ich hoffe du findest bald einen Verleger. Ich liebe dich, vergiss das nicht.“
„Ahh, gut, äh ich meine ich liebe dich auch. Ach, fuck, ich war grad irgendwo anders, tut mir leid.“
Sie schaute mich voller Mitleid an und ich ertrug das kaum. „Ich hab’ dich immer unterstützt, aber du musst was tun, das uns am Leben erhält. Ich tue es auch, oder nicht?“ Sicher tat sie das. Sie war der stellvertretende Leiter eines Supermarktes, mit nicht gerade einem bescheidenem Gehaltsscheck am Monatsende. Es war ok und ermöglichte mir schließlich die vielen Flüge, welche ich zur Zeit als Inspiration brauchte. Die Inspiration eines Künstlers, der ohne sie aufgeschmissen wäre.
„Schreib irgendwas, was sich verkauft. Ich bitte dich!“
„Ich kann nicht schreiben mit dem Hintergedanken an einen verdammten Verkauf!“
„Aber mit dem Hintergedanken an die Flasche Vodka und das Ticket kannst du’s, oder?“
Ich warf einen verstohlenen Blick zum Boden. Sie hatte recht. Flüge und Vodka waren der zentrale Mittelpunkt meiner Gedanken in den letzten sechs Monaten. Aber ich war so knapp davor, meinen unausprechlichen Wahn in Worte zu packen. Und dann würdest du in Ruhm gebadet, mein Schatz. Dein Warten Martha, wird sich ausgezahlt haben.
„Gib mir noch ein paar Monate, ich bin so kurz davor die richtigen Worte zu finden. Ich spüre es!“
Sie würde mich noch immer mit einem gutmütigen Blick ansehen. Zumindest hoffte ich das. Doch es kam nur ein ein müder Blick von ihr. Ein verhaltenes Lächeln, wie ein „Wie war dein Tag?“-Lächeln.
Sie ging aus der Wohnung und wie die unzähligen anderen Tage blieb ich mit steinerner Mine und dem Blick in eine aufgehende Sonne, deren Strahlen die Schatten meiner lieben Martha in meiner Erinnerung an den Boden und die Wand zeichneten. Als ob sie noch nicht gegangen wäre, kreisten meine Gedanken um sie, um uns und unsere Beziehung, welche längst nicht mehr von Verständnis geprägt war.
Als sie abends von der Arbeit heimkehrte, saß ich auf dem Balkon und starrte in die untergehende Sonne.
„Was hast du denn heute geschrieben? Ihr Hohn verdüsterte meine Gedanken nur kurz. „Ich hab’ heute zwei Seiten geschrieben.“, krächste ich mit rauhem Hals. Zuviel auf dem Balkon gesessen, oder zuviel geraucht oder zu viel getrunken oder alles zusammen. Sie streifte mich mit einem nichtssagendem Blick als ob sie sich vergewisserte, dass die Pflanzen noch genügend Wasser hätten.
„So, zwei Seiten. Ich hab heute eine ganze Abteilung umstrukturiert. Weshalb ich auch einen zwölf Stunden Tag hatte. Falls dir das aufgefallen ist.“
Ist mir in der Tat aufgefallen. Normalerweeise kommt sie nach Hause, wenn ich die erste Seite roh geschrieben habe und sie gerade in eine für andere verständliche Form bringe. Eine Seite pro Tag ist nicht der Hit, aber ich sitze auch nicht im fucking Kolumbien unter einer Ballustrade und schaue auf bewaldete Bergketten, sondern auf eine Betonfront in 15 Metern Entfernung.
„Ich liebe dich“, warf ich geistesabwesend in den Raum.
„Ich weiß“, kam als Antwort.
„Heute hab' ich es mit der Nachbarin von gegenüber mal so richtig getrieben. War echt gut!“, rief ich hinterher.
„Ja, zwei Seiten, bin stolz auf dich.“
Ich stellte das Glas zur Seite und überlegt ob ich springen sollte. Dritter Stock ist nicht genug, dachte ich und goss mir noch einen ein. Vielleicht bringt die Nacht das, was der Abend mit seiner verächtlichen Fratze mir nicht gönnte. Frieden, Anerkennung oder was auch immer. Ich würde nicht schlafen können.
Die Sonne schien gerade erst aufgegangen zu sein, doch strahlte sie mit herzloser Intensität in unsere staubige Zwei-Zimmer Wohnung.
Es war verdammt spät. Mein Flug ging um 15:20 und ich hatte noch knappe 30 Minuten um einzuchecken. Als ich mich auf dem Sofa aufrichtete schrie sich Martha die Lunge aus dem Leib. Ich hatte wohl gestern abend den Toaster wieder mal mit Papier gefüttert. Das passiert mir manchmal, wenn nichts Brauchbares in Stunden alkoholgetränkter Schriftstellerei zusammenkommt. Wenn ich Schrott schreibe, nehme ich die Seiten, stopfe sie in unseren Toaster und schleppe ihn auf den Balkon um den Riegel herunterzudrücken. Nachbarn haben wir ja nicht. Zumindest nicht mehr.
„Ich fasse es nicht, erklär mir das!“, schrie sie mich an. Eine Hand in ihren zerzausten Haaren und in der anderen ein völlig verschmortes, schwarzes Etwas, das einmal unserer Toaster war. „Reg dich ab, Ich kauf uns einen neuen“, entgegnete ich. „Das wär’ dann der dritte in sechs Monaten? Und wovon willst Du den denn bezahlen. Falls es dir entgangen ist, ich arbeite und gebe dir alles und du, ja du... tust eigentlich gar nichts, außer im, im Rausch unseren Balkon abzufackeln! Verdammt, ich kann nicht mehr“, Ihre Stimme zitterte und sie verhaspelte sich. Das Sonnenlicht strahlte sie von hinten an und sie erinnerte mich mit ihrem Gesichtsausdruck an einen Clown, dem während seiner Darbietung jemand sagt, seine Familie wäre bei einem Brand ums Leben gekommen. Ihre Gesichtszüge entglitten ihr irgendwie, ihre Lippen bebten und ihre Augen schienen brennende Pfeile zu verschießen. Irgendwie schien in diesem Moment die Frau die ich liebte, sehr fern zu sein. Verkommen zu einer hysterisch wütenden Frau mit brennenden Haaren und einem schmorenden, schwarzen Ding in der Hand. Ich überlegte kurz, ob dieses Bild für eine Kurzgeschichte etwas hergeben könnte, verwarf den Gedanken dann aber.
„Es ist doch nur ein Toaster“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Die Welt drehte sich gestern, zu seinen Lebzeiten, sie dreht sich heute, sodaß mir schlecht wird und wird sich auch morgen noch drehen. Wenn dein Leben so übel ist, lass’ es nicht einem verkohlten Toaster und an mir aus.“ Langsam hatte ich genug, denn ich verstand nicht ganz warum diese Frau wegen eines Toaster so eine Wut entwickeln konnte. Sie spürte meine Ignoranz wohl sofort und knallte die Überreste des Geräts gegen die Wand hinter mir. Das Ding zerbarst in mehrere Teile, wovon mich eins an der Schläfe traf und eine dünne Rauchspur hinter sich her ziehend, hinter dem Sofa verschwand. Die Stelle an meiner Schläfe prickelte und sogleich kitzelte mich etwas Kaltes dort. Eine wunderbare Art einen Tag zu beginnen. Ich warf einen kurzen Blick zur Vodkaflasche im Regal.
Martha stapfte an mir vorbei. Ob sie von ihrem blutenden Lebensgefährten dabei Notiz nahm wusste ich nicht, war mir auch schon egal.
Als die Haustür laut krachend ins Schloss fiel, hörte ich wie Glas zerbrach. Das war wohl die Schale auf der Anrichte, welche Duftblüten beherbergte, die längst nur noch den abgestanden Geruch der Wohnung speicherten. Keine Ahnung, warum sie die nicht längst weggeworfen hat. Wahrscheinlich dachte sie, diese verstaubten Blüten könnten den Duft von längst vergangenen Zeiten eines Tages freisetzen. Was mich anging, war alles Übriggebliebene unserer Beziehung das verkohlte Ding in ihrer Hand gewesen.
Ich blickt zum Sofa hinüber. Keine Rauchwolken die dahinter aufstiegen, also mochte das Bruchstück des Küchengerätes, welches ein so treffendes Bild unserer Beziehung beschrieb, wohl abgekühlt sein.
Ich ging ins Bad und betrachtete mich im Spiegel. Eine kleiner roter Fleck auf meinem Kragen und eine dünne Spur geronnen Blutes in einem Gesicht, welches mal einem erfolgreichen Schriftsteller hätte gehören sollen, blickte mich aus leeren verqollenen Augen an. Was, wenn das Stück des Toasters hinter dem Sofa nicht ausgegangen ist und die sicherlich zentimeterdicken Staubflocken entzündet?, dachte ich.
Kleine, schwelende Staubflöckchen, die sich durch den Wind der immer noch offenen Balkontür entzünden und auf das Sofa übergreifen. Von dort aus auf die Vorhänge und das Regal. Dabei sah ich im Spiegel einen Ausdruck von versiegten Träume in einem fahlen zerrütteten Gesicht.
Jetzt könnte das Sofa bereits in Flammen stehen. War ein Geschenk meiner Schwiegermutter und entsprach in seiner Farbgebung ihrer farblosen und ebenso geschmacklosen Persönlichkeit. Es besaß eine Musterung, welche an einen blubbernden Waschkessel errinnert. Ich drehte den Wasserhahn auf. Es gluckerte in den Leitung als ob sie aus der Wand springen würden.
Ein Griff zur Zahnbürste und die Gedanken an unsere Vorhänge.
Aus welcher Art Stoff waren die eigentlich gemacht? Ich blickte wieder in den Spiegel und als mich gerrötete, feuchte Augen anblickten, denen jegliche Illusion fehlte, wusste ich nicht mehr welche Farbe die Vorhänge überhaupt hatten. Wenn sie doch nur brennen würden.
Der Schein des Feuers funkelte mir im angelaufenen Spiegel entgegen. Oder war es die aufgehende Sonne? Würde ich mich umdrehen? Sicher, wenn mir die Flammen in den Rücken schlagen, aber vorher nicht.
Ich drückte den letzten, vertrockneten Rest Zahnpasta auf die Bürste und führte sie zum Mund. Sie roch nach schmorendem Plastik, herb, säuerlich und erdrückend, wie Erbrochenes auf einer Herdplatte wohl riechen würde. Es war kein Geruch, der mich in dieser Situation noch anwidern könnte.
Wieder ein helles Flackern aus dem Raum hinter mir. Sicher nur ein Bewohner des gegenüberliegen Hauses, der seine Fenster öffnete.
Ich spuckte ins Waschbecken. Als ich hochblickte, waren meine Augen wieder trocken. Vielleicht sollte ich mich mal wieder rasieren. Obwohl ein gepflegter sechs Tage Bart ein gewisse Aura von Unabhängikeit signalisierte. Womöglich trägt er aber auch, in Verbindung mit dezentem Körpergeruch und schlechtem Atem zu einer eher ungünstigen Aura bei. Nun, der Atem war jetzt um einiges frischer. Ich werde mich rausputzen, alles Unvollkommene ablegen, mit der Austrahlung eines Immobilienmaklers, perfekt wie ich nie sein wollte. Einer gründlichen Rasur, dem Rasierwasser, einem Geschenk meiner einst so geliebten Martha, rieche ich nach Kelvin Klein und marschiere in meinem besten Anzug aus unserer brennenden Wohnung.
Mit einem gewinnenden Lächeln steige ich noch heute in ein Flugzeug. Ich werde anderen Anzugträgern auffallen, denn ab heute gehöre ich zu euch. Alleinerziehende Mütter mir ihren Kindern werden mit mir ins Flugzeug steigen. Sie werden den gebührenden Abstand zu einem erfolgreichen Menschen halten, den ich sicherlich prima abgebe. Oh, eine Rasur, eine teures Rasierwasser und ein guter Anzug reichen dafür nicht. Du brauchst die Austrahlung des völligen Abstands zu allem. Während sich die Bücher im Regal eins nach dem anderen in glühende Fetzen verwandelten, trifft mein letzter Blick die Duftblüten am Boden, als ich aus der Tür gehe. Ob meine Martha wohl deshalb die Blüten über die vielen Jahre aufhob? Damit sie im letzten Moment den Duft des konservierten Blütenstaubs im Feuer unserer Hoffnungen, unserer Zuversicht in die Zukunft freisetzten?
Im Fahrstuhl stehend, stecke ich mir die Ohrhörer ein. Gute Musik, ein feiner Duft eines teuren Rasierwassers und in der Hand ein Flugticket. Heute schreibe ich meine letzte Geschichte aber die ist wenigstens echt.
[fuel.]
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