Heute werde ich mal zitieren, nämlich aus "Die Gesellschaft der Gesellschaft" von Niklas Luhmann:
Hierbei sind sowohl individuelle Gedächntisse wie auch gesellschaftliches Gedächtnis gemeint,
Wie wichtig das Vergessen ist, merkt man schon daran, dass es das ist, was am meisten geschieht: Es wird vergessen, ständig wird alles vergessen. Was ich heute in der S-Bahn gesehen habe, habe ich schon alles vergessen.
Einen Geburtstag zu vergessen ist schon ein Sonderfall.
Außerdem ist die Formulierung "Ich habe deinen Geburtstag vergessen" ungenau. Man hat den Geburtstag natürlich nicht vergessen (wie könnte man sonst merken, dass man ihn vergessen hat
); sondern man hat ihn nur nicht zur richtigen Zeit "aktualisiert".
Vergessen, das heißt Reduzierung von Komplexität. Wahrnehmen und Vergessen sind eng aneinander gekoppelt. Wahrnehmen heißt, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, um überhaupt wahrnehmen zu können!
Wer jeden einzelnen Baum wahrnimmt, wird den Wald nicht sehen. Das Schema "Wald" hilft unserer Wahrnehmung und wurde imprägniert durch unser Gedächtnis. Wald ist eine Art Identität, durch wiederholtes Wahrnehmen zu einem Schema kondensiert und damit erst zur Abstraktion (Übertragung auf andere Wälder, Schilderwald zum Beipiel) freigegeben. Opfer dieser Imprägnierung sind unendlich viele vergessene Bäume.
Es gibt Menschen mit Wahrnehmungstörungen, Autisten zum Beipiel, die mit erstaunlichen Gedächtnisleitungen aufwarten, so genannte "savant idiots". Sie sind vielleicht ein lebendiges Beipiel dafür, was eine gestörte "Vergessensleistung" für Auswirkungen hat.
Vielleicht berührt auch die Fragestellung in https://www.denkforum.at/threads/2591&highlight=Evolution
diesen Punkt. Ein perfektes Gehirn ist kein lebensfähiges und kein evolutionsfähiges Gehirn.
Vergessen wird meist als tragisch wahrgenommen. Sei es als Krankheit (Alzheimer), als Schnelllebigkeit der Zeit (Oberflächlichkeit), als nostalgische Verklärung (schlechtes wird vergessen, Gutes überhöht).
Vielleicht brauchen wir keine Kultur des Vergessens. Sondern die Einsicht, dass Kultur auf Vergessen aufbaut - und daher nicht ständig als "tragisches Phänomen" erinnert zu werden braucht...