AW: Persönliche Gedanken zu den Tageslosungen
Teil 5:
4. Der christliche Antijudaismus
Von Herbert Schnädelbach
Die christliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzel in den Evangelien, während im Umkreis von Paulus davon kaum die Rede ist. Sie ist ursprünglich eine innerjüdische Angelegenheit, denn die Evangelisten sammeln frühestens drei Jahrzehnte nach dem Tod Jesu judenchristliche Berichte über dessen Leben und Sterben, und die kommen darin überein, die Hohepriester und Schriftgelehrten sowie das von ihnen angestachelte "Volk" für die Kreuzigung verantwortlich zu machen. Es sind also zunächst getaufte Juden, die Juden anklagen, den wahren Messias verkannt zu haben.
Während es Markus und Lukas bei der Beschuldigung des orthodoxen Judentums belassen, geht Matthäus zum christlichen Antijudaismus über. Was heute noch jeden christlichen Hörer von Bachs Matthäuspassion erstarren lassen sollte, ist das, was das "ganze Volk" dem Pilatus antwortet, als der seine Hände in Unschuld wäscht und sagt: "Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten!" - "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Geschrieben ist dies nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, und dieses Ereignis gilt dem frommen Evangelisten als Erfüllung jenes unfrommen Wunsches; zuvor hatte er Jesus die Katastrophe des palästinensischen Judentums ausführlich prophezeien lassen (Matthäus 23 und 24). Es handelt sich hier um eine der zahlreichen Varianten des Schemas Verheißung-Erfüllung, mit denen das Matthäusevangelium seinen Judengenossen das Christentum nahe bringen wollte. Was den Juden in Jerusalem von den Römern geschah, erscheint als gerechte Folge der Selbstverfluchung eines ganzen Volkes, durch die es nach Matthäus die Schuld am Tode Jesu ausdrücklich auf sich genommen haben soll und fortwirkt in alle Ewigkeit. Also nicht bloß der Bericht aller Evangelien, dass Juden die Kreuzigung betrieben hätten - Johannes spricht an dieser Stelle nur noch von "den" Juden -, ist schon ein hinreichendes Motiv der christlichen Judenfeindschaft; erst die Behauptung, "die" Juden hätten doch selbst das Blut Jesu heraufbeschworen, verschaffte den christlichen Judenverfolgungen ein gutes Gewissen. So zieht sich von jener Blut-Stelle des Matthäus eine Blutspur über die ungezählten Judenpogrome im christlichen Europa bis hin zum rassistischen Antisemitismus als dem säkularen Erbe des religiösen Antijudaismus. Der Holocaust war ohne das Christentum nicht möglich, viele Christen haben sich daran ohne schlechtes Gewissen beteiligt, und die katholische Kirche hat dazu geschwiegen; zu diesem Schweigen schweigt der Papst bis heute.