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Nietzsche und die Märkte/Foren der Weisheit

EarlGrey

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5. September 2007
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3.475
Von den Fliegen des Marktes

[316] Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit! Ich sehe dich betäubt vom Lärme der großen Männer und zerstochen von den Stacheln der kleinen.

Würdig wissen Wald und Fels mit dir zu schweigen. Gleiche wieder dem Baume, den du liebst, dem breitästigen: still und aufhorchend hängt er über dem Meere.

Wo die Einsamkeit aufhört, da beginnt der Markt; und wo der Markt beginnt, da beginnt auch der Lärm der großen Schauspieler und das Geschwirr der giftigen Fliegen.

In der Welt taugen die besten Dinge noch nichts, ohne einen, der sie erst aufführt: große Männer heißt das Volk diese Aufführer.

Wenig begreift das Volk das Große, das ist: das Schaffende. Aber Sinne hat es für alle Aufführer und Schauspieler großer Sachen.

Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt – unsichtbar dreht sie sich. Doch um die Schauspieler dreht sich das Volk und der Ruhm: so ist es der Welt Lauf.

Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an das, womit er am stärksten glauben macht – glauben an sich macht!

Morgen hat er einen neuen Glauben und übermorgen einen neueren. Rasche Sinne hat er, gleich dem Volke, und veränderliche Witterungen.

Umwerfen – das heißt ihm: beweisen. Tollmachen – das heißt ihm: überzeugen. Und Blut gilt ihm als aller Gründe bester.

Eine Wahrheit, die nur in feine Ohren schlüpft, nennt er Lüge und Nichts. Wahrlich, er glaubt nur an Götter, die großen Lärm in der Welt machen!

Voll von feierlichen Possenreißern ist der Markt – und das Volk rühmt sich seiner großen Männer! das sind ihm die Herrn der Stunde.

Aber die Stunde drängt sie: so drängen sie dich: und auch von dir wollen sie Ja oder Nein. Wehe, du willst zwischen Für und Wider deinen Stuhl setzen?

Dieser Unbedingten und Drängenden halber sei ohne Eifersucht, du Liebhaber der Wahrheit! Niemals noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Unbedingten.[316]

Dieser Plötzlichen halber gehe zurück in deine Sicherheit: nur auf dem Markt wird man mit Ja? oder Nein? überfallen.

Langsam ist das Erleben allen tiefen Brunnen: lange müssen sie warten, bis sie wissen, was in ihre Tiefe fiel.

Abseits vom Markte und Ruhme begibt sich alles Große: abseits vom Markte und Ruhme wohnten von je die Erfinder neuer Werte.

Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit: ich sehe dich von giftigen Fliegen zerstochen. Fliehe dorthin, wo rauhe, starke Luft weht!


Fliehe in deine Einsamkeit! Du lebtest den Kleinen und Erbärmlichen zu nahe. Fliehe vor ihrer unsichtbaren Rache! Gegen dich sind sie nichts als Rache.

Hebe nicht mehr den Arm gegen sie! Unzählbar sind sie, und es ist nicht dein Los, Fliegenwedel zu sein.

Unzählbar sind diese Kleinen und Erbärmlichen; und manchem stolzen Baue gereichten schon Regentropfen und Unkraut zum Untergange.

Du bist kein Stein, aber schon wurdest du hohl von vielen Tropfen. Zerbrechen und zerbersten wirst du mir noch von vielen Tropfen.

Ermüdet sehe ich dich durch giftige Fliegen, blutig geritzt sehe ich dich an hundert Stellen; und dein Stolz will nicht einmal zürnen.

Blut möchten sie von dir in aller Unschuld, Blut begehren ihre blutlosen Seelen – und sie stechen daher in aller Unschuld.

Aber du Tiefer, du leidest zu tief auch an kleinen Wunden; und ehe du dich noch geheilt hast, kroch dir der gleiche Giftwurm über die Hand.

Zu stolz bist du mir dafür, diese Naschhaften zu töten. Hüte dich aber, daß es nicht dein Verhängnis werde, all ihr giftiges Unrecht zu tragen!

Sie summen um dich auch mit ihrem Lobe: Zudringlichkeit ist ihr Loben. Sie wollen die Nähe deiner Haut und deines Blutes.

Sie schmeicheln dir wie einem Gotte oder Teufel; sie winseln vor dir wie vor einem Gotte oder Teufel. Was macht es! Schmeichler sind es und Winsler, und nicht mehr.

Auch geben sie sich dir oft als Liebenswürdige. Aber das war immer die Klugheit der Feigen. Ja, die Feigen sind klug!

Sie denken viel über dich mit ihrer engen Seele – bedenklich bist du ihnen stets! Alles, was viel bedacht wird, wird bedenklich.[317]

Sie bestrafen dich für alle deine Tugenden. Sie verzeihen dir von Grund aus nur – deine Fehlgriffe.

Weil du milde bist und gerechten Sinnes, sagst du: »unschuldig sind sie an ihrem kleinen Dasein.« Aber ihre enge Seele denkt: »Schuld ist alles große Dasein.«

Auch wenn du ihnen milde bist, fühlen sie sich noch von dir verachtet; und sie geben dir deine Wohltat zurück mit versteckten Wehtaten.

Dein wortloser Stolz geht immer wider ihren Geschmack; sie frohlocken, wenn du einmal bescheiden genug bist, eitel zu sein.

Das, was wir an einem Menschen erkennen, das entzünden wir an ihm auch. Also hüte dich vor den Kleinen!

Vor dir fühlen sie sich klein, und ihre Niedrigkeit glimmt und glüht gegen dich in unsichtbarer Rache.

Merktest du nicht, wie oft sie stumm wurden, wenn du zu ihnen tratest, und wie ihre Kraft von ihnen ging wie der Rauch von einem erlöschenden Feuer?

Ja, mein Freund, das böse Gewissen bist du deinen Nächsten: denn sie sind deiner unwert. Also hassen sie dich und möchten gerne an deinem Blute saugen.

Deine Nächsten werden immer giftige Fliegen sein; das, was groß an dir ist – das selber muß sie giftiger machen und immer fliegenhafter.

Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine rauhe, starke Luft weht. Nicht ist es dein Los, Fliegenwedel zu sein. –



Also sprach Zarathustra.
 
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Dreh- und Angelpunkt ist wohl die zentrale Lebensgemeinschaft, solange sie kein Ort ist , von dem aus sowohl der Rückzug und die Besinnung auf sich selbst als auch die Teilnahme am öffentlichen Leben nach den eigenen Wertvorstellungen möglich ist, würde der Mensch am Widerspruch zwischen Ideal und Realität ver-zwei-feln und die Einsamkeit ist der einzige sichere Ort, mMn aber auch Brutstätte neuer wirklichkeitsferner Ideale.
 
Dreh- und Angelpunkt ist wohl die zentrale Lebensgemeinschaft, solange sie kein Ort ist , von dem aus sowohl der Rückzug und die Besinnung auf sich selbst als auch die Teilnahme am öffentlichen Leben nach den eigenen Wertvorstellungen möglich ist, würde der Mensch am Widerspruch zwischen Ideal und Realität ver-zwei-feln und die Einsamkeit ist der einzige sichere Ort, mMn aber auch Brutstätte neuer wirklichkeitsferner Ideale.

Brutstätte wirklichkeitsferner Ideale liegt eher in der Mittelmäßigkeit, der einen sicheren Ort vortäuscht, denke ich. Die ewigen Wiederkäuer! :D
 
Kaawi schrieb:
Dreh- und Angelpunkt ist wohl die zentrale Lebensgemeinschaft,
solange sie kein Ort ist , von dem aus sowohl der Rückzug
und die Besinnung auf sich selbst als auch die Teilnahme am
öffentlichen Leben nach den eigenen Wertvorstellungen möglich ist,
würde der Mensch am Widerspruch zwischen Ideal und Realität
ver-zwei-feln und die Einsamkeit ist der einzige sichere Ort,
mMn aber auch Brutstätte neuer wirklichkeitsferner Ideale.
Kaawi,
hundertprozentige Zustimmung!

Allerdings hatte ich zunächst Probleme mit der richtigen Deutung.
Mich hat das Komma nach "Lebensgemeinschaft" auf eine falsche
Schiene geleitet. Ich gehe davon aus, dass gemeint war:
Dreh- und Angelpunkt ist wohl die zentrale Lebensgemeinschaft.

Solange diese kein Ort ist, von dem aus sowohl der Rückzug
und die Besinnung auf sich selbst, als auch ...
Da sieht man wieder einmal, wie stark sich Interpunktionen
auf die Verständlichkeit und Semantik auswirken.

Aber das musste ja garnicht in dieser Klarheit gesagt werden. ;)

 
Mir ist es zwar auch aufgefallen, aber verstanden haben es wir beide dennoch.;)

Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Lektor…:)
 

Vermeidung von extremer Einseitigkeit.

Anideos schrieb:
Ich bin immer noch auf der Suche nach einem Lektor… :)
Das war von meiner Seite keine Bewerbung für eine Anstellung
als Lektor, sondern ich wollte dazu beitragen,
dass der Text von Kaawi auch richtig gedeutet wird.

Mit den "Fliegen des Marktes" spricht sich Nietzsche offenbar
für ein eigenständiges, unbeeinflusstes, gründliches Denken aus,
das in der Einsamkeit besser gelingen kann als in dem Trubel
des Wettbewerbes der Eitelkeiten auf den Märkten.

Kaawi hat das mit dem Hinweis ergänzt,
dass ein "Sowohl, als Auch" wünschenswert erscheint.

Sowohl ein gelegentlicher Rückzug in die Einsamkeit, um sich
gegen allzu starke Einflüsse des Marktgeschreies abzuschirmen,
als auch eine Einbindung in eine Lebensgemeinschaft
und eine Teilnahme am öffentlichen Leben, um sich nicht
in allzu realitätsfremde Idealvorstellungen zu verrennen.

Diese Ergänzung halte ich für wertvoll.


> Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden. <

 
Das war von meiner Seite keine Bewerbung für eine Anstellung
als Lektor, sondern ich wollte dazu beitragen,
dass der Text von Kaawi auch richtig gedeutet wird.
Das habe ich auch nicht auf dich bezogen, sondern allgemein, weil meine Formulierungen und die Interpunktion oft hinken.
Mit den "Fliegen des Marktes" spricht sich Nietzsche offenbar
für ein eigenständiges, unbeeinflusstes, gründliches Denken aus,
das in der Einsamkeit besser gelingen kann als in dem Trubel
des Wettbewerbes der Eitelkeiten auf den Märkten.

Kaawi hat das mit dem Hinweis ergänzt,
dass ein "Sowohl, als Auch" wünschenswert erscheint.

Sowohl ein gelegentlicher Rückzug in die Einsamkeit, um sich
gegen allzu starke Einflüsse des Marktgeschreies abzuschirmen,
als auch eine Einbindung in eine Lebensgemeinschaft
und eine Teilnahme am öffentlichen Leben, um sich nicht
in allzu realitätsfremde Idealvorstellungen zu verrennen.

Diese Ergänzung halte ich für wertvoll.


> Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden. <
Da sind wir uns auch einig. Es wird langsam mit uns beiden, aber ich schätze, nicht für sehr lange. Ich warte auf die nächste Nebelkerze…;)
 
Diese Szene steht im krassen Widerspruch zu Nietzsches Überzeugung, das der Lärm des Marktlebens und das stille Beisichsein unvereinbar miteinander seien:


Und da der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, nehme ich ihn auch als Bestätigung für meine These dass die zentrale Lebensgemeinschaft der Ausgangspunkt gelebter Friedfertigkeit ist und nicht der Rückzug in die Einsamkeit.

 
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Diese Szene steht im krassen Widerspruch zu Nietzsches Überzeugung, das der Lärm des Marktlebens und das stille Beisichsein unvereinbar miteinander seien:


Und da der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, nehme ich ihn auch als Bestätigung für meine These dass die zentrale Lebensgemeinschaft der Ausgangspunkt gelebter Friedfertigkeit ist und nicht der Rückzug in die Einsamkeit.


Welches Zitat nimmst du da genau von Nietzsche?

Selbst in der Bibel werden solche Szenen dargestellt, aber menschlicher ist es dadurch auch nicht geworden.
Eine ehrenvolle Haltung der Mönche, aber leider immer viel zu wenige.
In der Masse gehen sie all zu oft unter, denn die Masse grölt leider viel zu gerne mit.
So verstehe ich Nietzsche!
 
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