AW: Nachtleben
Hier noch der Beginn...
Ein böiger Wind bläst, als ich das Kino in Richtung Innenstadt verlasse. Spät ist es geworden. Leer sind die Straßen. Ab und zu fegt ein Taxifahrer vorbei, der es wie alle seiner Zunft eilig hat. Die Nordkette ist von dichten Wolken eingehüllt, wie in Watte eingepackt. Das Licht der Seegrube hebt sich noch schwach aus dem Nebel ab, der immer dichter wird und den ganzen Berg zu verschlingen droht. Es liegt eine seltsame Stimmung in der Luft, wie immer vor Föhndurchbruch in einem Wintermonat, der sich durch diesen böigen Wind vom Oberland her ankündigt. Noch ist der Föhn nicht da, doch ist es bereits mild wie in einer lauen Sommernacht. Am Eingang der Altstadt kommt wieder Leben auf. Nachtschwärmer häufen sich, torkeln durch die Gassen, laut johlend, schreiend, lachend, sich erregt unterhaltend, nachdenklich am Goldenen Dachl vorbeischlendernd, so wie ich. Die Stadt wirkt in der Nacht noch majestätischer als bei Tageslicht. Das mag an den Touristen liegen, denke ich mir, denn diese füllen die Gassen bis in das letzte Eck aus, ersticken die Schönheit, die Faszination dieser Stadt, an der ich von Beginn meines Daseins hier Gefallen fand, die ich schon mochte, als der hervorstehende, steile Zahn der Martinswand in mein Blickfeld stach. Am Anfang ist man einer dieser Urlauber, denke ich mir, die durch die Stadt laufen, in die Schaufenster starren, die beliebtesten Sehenswürdigkeiten betrachten und sich vom Strom anderer, unzähliger Touristen mittreiben lassen. Es ist die Aufrechterhaltung eines Klischees. Man tut, was von einem erwartet ist, obwohl man es gar nicht tun will. Es werden die üblichen Erinnerungsfotos geschossen, die sich schon dutzendfach in den Alben tausender und abertausender Touristen finden, welche jährlich in Innsbruck einfallen. Der Gedanke an einen Perspektivwechsel kommt erst gar nicht, und selbst wenn er denn einfiele, würde er von den Touristenmassen gar nicht zugelassen. Sie verstecken die Schönheit der Altstadt unter einer Maske der Einfallslosigkeit. In der Nacht fallen die Hüllen. Die Tagesgäste sind verschwunden. Die Stadt erhält einen ganz anderen Flair. Sofern man alleine unterwegs ist, sich nicht ablenken lässt, in sich gekehrt und zugleich mit offenen Augen auf dem Weg zur Selbstfindung ist. Immer wieder streifen Jugendliche oder junge Erwachsene vorbei, schwarz wie die Nacht selbst gekleidet, mit Bierdosen oder Weinflaschen bewaffnet, deren Ballast sie sich auf dem Weg zur nächsten Tankstelle entledigen. Ihnen ist die Verwandlung dieser Stadt gleichgültig. Sie wollen sich ablenken, abschalten, Spaß haben. Ich verüble es ihnen nicht. Betrachte ehrfürchtig den Stadtturm, von dessen Plattform sich vor Monaten jemand absichtlich zu Tode stürzte. Ihm lag Innsbruck zu Füßen, denke ich mir, er hat auf sie herab gesehen. Auf den Alltag, auf die Gleichgültigkeit, die an ihm in den Tagen vor seinem Freitod vorbeilief, die stummen Zeichen seiner Verzweiflung übersehend. Es geschah am helllichten Tag. Er hätte in der Nacht da oben stehen sollen. Mir wäre er aufgefallen.
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