Liebe Marianne,
ich musste ein bisschen überlegen, ob das jetzt eine ganz banale oder eine ganz tiefgreifende Frage ist, die du da stellst. aber vielleicht fällt sich das Urteil selbst durch Rückschau über die Antwort...
Die Antwort, die ich geben kann, enthält ein doppeltes Paradox und wirkte vielleicht wie eine logische Spielerei, wenn ich nicht einen konkreten Hintergrund geben könnte.
Wie oben schon angedeutet, ist die Wahrnehmung der blinde Fleck unseres Bewusstseins. Man kann bewusst nicht zwei Dinge gleichzeitig tun: etwas wahrnehmen und gleichzeitig sich selbst dabei beobachten, wie man etwas wahrnimmt. Oder anders ausgedrückt: man kann nicht gleichzeitig in erster UND zweiter Ordnung beobachten. denn die Beobachtung zweiter Ordnung (die Beobachtung der Beobachtung) ist für sich gesehen auch nur eine Beobachtung erster Ordnung. Dieses Paradox (das erste in meiner Darstellung) lässt sich nur zeitlich auflösen (oder räumlich in Bezug auf andere Personen, deren Erleben wir natürlich beobachten können). Man kann also etwas beobachten und dann - zeitlich versetzt - seine Beobachtung beobachten (beurteilen, kognitiv verarbeiten usw.). Dafür haben wir ein Gedächtnis. Dieser Wechsel zwischen Beobachtung erster und zweiter Ordnung kann sehr schnell erfolgen, so dass er uns meistens (und manchen nie) bewusst ist.
Wenn wir dies nun auf den Begriff "Leben" übertragen, kann man sagen, dass man sein Leben nie erleben kann - und man das Wesen des Lebens genau dann begriffen hat, wenn man diesen Umstand "begreift", ihn "erlebt" (das zweite Paradox). Luhmann benutzt hierfür den Begriff "unsichtbare Welt".
Man könnte dies als tragisch empfinden (und viele tun dies – zum Beispiel indem sie Vergänglichkeit u. ä. thematisieren), wenn man nicht begreifen könnte, dass dies genau so sein muss. Könnten wir dies Paradox der "unbeobachteten Welt" aushebeln, könnten wir alles zum Stillstand bringen. Unser Bewusstsein wäre nicht mehr gezwungen, von Moment zu Moment fortzuschreiten, denn das Paradox hält die "Autopoiesis" des Bewusstseins im Gange, zwingt uns, Beobachtung an Beobachtung zu reihen, um wahrzunehmen, dass wir das Leben nicht wahrnehmen können. Wir würden uns auch der Fähigkeit der Selbstüberraschung, der Eigenirritation berauben, wenn wir das Leben IM MOMENT des Lebens beobachten könnten. Der Zeitversatz würde kollabieren, wir nähmen sozusagen eine vierdimensionale Sicht auf unser Leben ein (ähnlich Gott in „Trost der Philosophie“ von Boethius), wir sähen alles schon im Voraus, in Gegenwart und in der Vergangenheit – was aus vielen Gründen weder möglich noch wünschenswert wäre.
Wie gesagt, diese doppelte Paradoxie klänge sehr nach Spielerei, wenn ich nicht behaupten könnte, ich hätte in der Richtung in meiner Jugend eine Art "Erweckungserlebnis" gehabt. Denn mir fiel in der Tat als Kind (ich war vielleicht zehn) von einem auf den anderen Moment auf, wie mein Erleben mir ständig entglitt, wie ich mir bewusst war und doch nicht im Moment bewusst war, wie mir vieles klar umrissen schien und dennoch nie feste Form annahm.
Ich weiß nicht, ob andere Menschen auch solche Erlebnisse haben, aber sehr wenige haben wahrscheinlich das Glück, Jahrzehnte später eine Theorie zu finden, die zu diesem Erleben passt. So kann ich in der Rückschau behaupten, ich hätte damals genau das Wesen des Lebens erkannt - in dem ich seine Unerlebbarkeit bemerkte.
Natürlich konnte ich dieses „Bewusstwerden des Unbewusstseins“ nicht artikulieren, geschweige denn eine Erklärung dazu liefern – aber in der Rückschau hat gerade diese Tatsache, dass ich es nicht artikulieren konnte, eine eigene Qualität. Immerhin so prägend, dass mir Details des Moments (Kinderzimmer von Bekannten, Tübingen) gegenwärtig geblieben sind.
Grüße Robin