Ohne Titel
Plötzlich saß sie da,
niemand hatte sie zuvor in diesen Straßen gesehen.
Nicht, dass den meisten Passanten in ihrer Eile die kleinen Veränderungen ihrer täglichen Route besonders auffielen, oder dass sie je große Aufmerksamkeit auf solche Beobachtungen verwendet hätten, aber sie war doch zu ungewöhnlich, um übersehen zu werden.
Ein kleines Mädchen im dünnen Kleidchen, im morgendlichen Nebel am Straßenrand sitzend.
Die hellen Härchen auf ihren nackten Armen und auf ihren Beinen kräuseln sich ab und an, wenn ein Windhauch sie streift. Eine Gänsehaut läuft ihr ab und zu den Nacken herab. Sie hat die dünnen Arme um die angezogenen Beine geschlungen, einige Strähnen fallen ihr ins Gesicht, auf dem keine Regung zu erkennen ist. Es scheint völlig ausdruckslos und doch scheint sie bei klarem Verstand zu sein. Sie weiß, wo sie ist und was sie tut.
Das sieht man ihr an und deshalb laufen die meisten Passanten, die zunächst bei ihrem Anblick stutzen, in gewohnter Eile weiter, denn sie wirkt nicht verloren.
Ein Jugendlicher jedoch bleibt stehen, beobachtet das ungewöhnliche kleine Mädchen zunächst, nimmt dann die Stöpsel seines Walkmans aus den Ohren und spricht sie an:
„Hey, alles in Ordnung bei dir?“
Langsam wendet sie ihm ihr Gesicht zu, es scheint immer noch ausdruckslos, doch ihre Stimme klingt sanft, als sie antwortet:
„Ja, und bei dir?“
Damit hat sie ihn offensichtlich aus dem Konzept gebracht, er stutzt, fragt dann aber trotzdem:
„Brauchst du vielleicht irgendwelche Hilfe?“
„Nein, du?“
Sie sieht ihn lange durchdringend an, so lange bis er ihrem Blick nicht mehr standhalten kann, er fühlt sich unbehaglich – zu unbehaglich – schüttelt den Kopf und geht weiter.
Das kleine Mädchen legt den Kopf auf die Knie und blickt vor sich auf die Straße; ab und zu blinzelt sie, aber ihre Augen bewegen sich kaum, sie scheint die ganze Zeit ein und denselben Fleck zu beobachten, eine Mischung aus Gelassenheit und Gleichgültigkeit ausstrahlend. So sitzt sie noch lange da, wie lange lässt sich schwer sagen, Zeit ist in diesem Fall unwichtig, relativ.
Später, als die Sonne schon hoch steht, spricht sie ein älterer Mann an:
„Was macht die kleine Madame denn so alleine hier auf der Straße?“
Als sie ihm den Kopf zuwendet, fallen ihr wieder einige Haarsträhnen ins Gesicht. Sie macht sich nicht die Mühe, sie zurückzustreichen. Langsam spricht sie:
„Ich bin nicht allein.“
Danach wendet sie ihren Blick wieder dem gegenüberliegenden Bordstein zu, auf welchem seit einigen Stunden eine zertretene Coladose liegt, diese scheint sie zu fixieren. Das kleine Mädchen scheint nicht mehr ansprechbar und der ältere Herr geht weiter.
Er wird noch lange über diese Begegnung nachdenken.
In den folgenden Tagen bietet sich den Pssanten das gleiche Bild immer wieder. In den verschiedenen umliegenden Straßen sieht man das kleine Mädchen stets in dem gleichen dünnen Kleid am Straßenrand sitzen.
An einem besonders kühlen Tag sitzt sie früh morgens an einer Bushaltestelle, wieder ist nur ihr Nacken mit einer Gänsehaut überzogen. Falls sie friert, merkt man ihr das ansonsten nicht an.
Eine pummelige Frau gesellt sich zu ihr, sie wirkt müde und doch strahlt sie Wärme aus. Nach kurzem Überlegen spricht sie das seltsame Mädchen vorsichtig an:
„Ich hab dich hier noch nie gesehen. Darf ich dich fragen, wer du bist? Wie heißt du?“
Das kleine Mädchen blickt weiter geradeaus, nach einigen Minuten dreht sie dann doch sehr langsam den Kopf und blickt die Frau an. Während sie noch mit ihrer Antwort zögert, scheint ihr Blick zu verschwimmen.
„Ich weiß es nicht“, sagt sie sehr leise.
In diesem Moment hält der Bus, die Frau schreckt auf.
„Sorry, ich muss zur Arbeit, vielleicht sehen wir uns hier ja noch mal...“, entschuldigt sie sich und eilt zur Tür.
Als der Bus fährt blickt sie noch lange nachdenklich zurück.
Nach einigen Minuten steht die kleine Gestalt von ihrem Platz an der Haltestelle auf.
„Gehen wir“, murmelt sie und verschwindet für immer aus diesen Straßen.
Noch nie hatte sie jemand nach ihrem Namen gefragt.
c Sarah Maschek
28.April 2003
Plötzlich saß sie da,
niemand hatte sie zuvor in diesen Straßen gesehen.
Nicht, dass den meisten Passanten in ihrer Eile die kleinen Veränderungen ihrer täglichen Route besonders auffielen, oder dass sie je große Aufmerksamkeit auf solche Beobachtungen verwendet hätten, aber sie war doch zu ungewöhnlich, um übersehen zu werden.
Ein kleines Mädchen im dünnen Kleidchen, im morgendlichen Nebel am Straßenrand sitzend.
Die hellen Härchen auf ihren nackten Armen und auf ihren Beinen kräuseln sich ab und an, wenn ein Windhauch sie streift. Eine Gänsehaut läuft ihr ab und zu den Nacken herab. Sie hat die dünnen Arme um die angezogenen Beine geschlungen, einige Strähnen fallen ihr ins Gesicht, auf dem keine Regung zu erkennen ist. Es scheint völlig ausdruckslos und doch scheint sie bei klarem Verstand zu sein. Sie weiß, wo sie ist und was sie tut.
Das sieht man ihr an und deshalb laufen die meisten Passanten, die zunächst bei ihrem Anblick stutzen, in gewohnter Eile weiter, denn sie wirkt nicht verloren.
Ein Jugendlicher jedoch bleibt stehen, beobachtet das ungewöhnliche kleine Mädchen zunächst, nimmt dann die Stöpsel seines Walkmans aus den Ohren und spricht sie an:
„Hey, alles in Ordnung bei dir?“
Langsam wendet sie ihm ihr Gesicht zu, es scheint immer noch ausdruckslos, doch ihre Stimme klingt sanft, als sie antwortet:
„Ja, und bei dir?“
Damit hat sie ihn offensichtlich aus dem Konzept gebracht, er stutzt, fragt dann aber trotzdem:
„Brauchst du vielleicht irgendwelche Hilfe?“
„Nein, du?“
Sie sieht ihn lange durchdringend an, so lange bis er ihrem Blick nicht mehr standhalten kann, er fühlt sich unbehaglich – zu unbehaglich – schüttelt den Kopf und geht weiter.
Das kleine Mädchen legt den Kopf auf die Knie und blickt vor sich auf die Straße; ab und zu blinzelt sie, aber ihre Augen bewegen sich kaum, sie scheint die ganze Zeit ein und denselben Fleck zu beobachten, eine Mischung aus Gelassenheit und Gleichgültigkeit ausstrahlend. So sitzt sie noch lange da, wie lange lässt sich schwer sagen, Zeit ist in diesem Fall unwichtig, relativ.
Später, als die Sonne schon hoch steht, spricht sie ein älterer Mann an:
„Was macht die kleine Madame denn so alleine hier auf der Straße?“
Als sie ihm den Kopf zuwendet, fallen ihr wieder einige Haarsträhnen ins Gesicht. Sie macht sich nicht die Mühe, sie zurückzustreichen. Langsam spricht sie:
„Ich bin nicht allein.“
Danach wendet sie ihren Blick wieder dem gegenüberliegenden Bordstein zu, auf welchem seit einigen Stunden eine zertretene Coladose liegt, diese scheint sie zu fixieren. Das kleine Mädchen scheint nicht mehr ansprechbar und der ältere Herr geht weiter.
Er wird noch lange über diese Begegnung nachdenken.
In den folgenden Tagen bietet sich den Pssanten das gleiche Bild immer wieder. In den verschiedenen umliegenden Straßen sieht man das kleine Mädchen stets in dem gleichen dünnen Kleid am Straßenrand sitzen.
An einem besonders kühlen Tag sitzt sie früh morgens an einer Bushaltestelle, wieder ist nur ihr Nacken mit einer Gänsehaut überzogen. Falls sie friert, merkt man ihr das ansonsten nicht an.
Eine pummelige Frau gesellt sich zu ihr, sie wirkt müde und doch strahlt sie Wärme aus. Nach kurzem Überlegen spricht sie das seltsame Mädchen vorsichtig an:
„Ich hab dich hier noch nie gesehen. Darf ich dich fragen, wer du bist? Wie heißt du?“
Das kleine Mädchen blickt weiter geradeaus, nach einigen Minuten dreht sie dann doch sehr langsam den Kopf und blickt die Frau an. Während sie noch mit ihrer Antwort zögert, scheint ihr Blick zu verschwimmen.
„Ich weiß es nicht“, sagt sie sehr leise.
In diesem Moment hält der Bus, die Frau schreckt auf.
„Sorry, ich muss zur Arbeit, vielleicht sehen wir uns hier ja noch mal...“, entschuldigt sie sich und eilt zur Tür.
Als der Bus fährt blickt sie noch lange nachdenklich zurück.
Nach einigen Minuten steht die kleine Gestalt von ihrem Platz an der Haltestelle auf.
„Gehen wir“, murmelt sie und verschwindet für immer aus diesen Straßen.
Noch nie hatte sie jemand nach ihrem Namen gefragt.
c Sarah Maschek
28.April 2003