• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Auf Thema antworten

AW: Jesus wird wiederkommen




Wenns denn Kopfsteher sein sollen ...

Da hätte ich auch einen zu bieten.


Chinesische Legende


Von Meng Hsiä wird berichtet:


Als ihm zu Ohren kam, daß neuerdings die 

jungen Künstler sich darin übten, auf dem

Kopf zu stehen, um eine neue Weise des Sehens 

zu erproben, unterzog Meng Hsiä sich 

sofort ebenfalls dieser Übung, und nachdem

er es eine Weile damit probiert hatte, sagte 

er zu seinen Schülern: "Neu und schöner

blickt die Welt mir ins Auge, wenn ich mich

auf den Kopf stelle."

Dies sprach sich herum, und die Neuerer

unter den jungen Künstler rühmten sich

dieser Bestätigung ihrer Versuche durch den

alten Meister nicht wenig.


Da dieser als recht wortkarg bekannt war und

seine Jünger mehr durch sein bloßes Dasein

und Beispiel erzog als durch Lehren, wurde 

jeder seiner Aussprüche beachtet und weiter

verbreitet.


Und nun wurde, bald nachdem jene Worte die 

Neuerer entzückt, viele Alte aber befremdet, 

ja erzürnt hatten, schon wieder ein Ausspruch

von ihm bekannt. Er habe, so erzählte man,

sich neuestens so geäußert:


"Wie gut, daß der Mensch zwei Beine hat!

Das Stehen auf dem Kopf ist der Gesundheit

nicht zuträglich, und wenn der auf dem Kopf

stehende sich wieder aufrichtet, dann blickt

ihm, dem auf den Füßen Stehenden, die Welt

doppelt so schön ins Auge."


An diesen Worten des Meisters nahmen so-

wohl die jungen Kopfsteher, die sich von ihm

verraten oder verspottet fühlten, wie auch

die Mandarine großen Anstoß.


"Heute", so sagten die Mandarine, "behauptet

Meng Hsiä dies, und morgen das Gegenteil.

Es kann doch unmöglich zwei Wahrheiten

geben. Wer mag den unklug gewordenen

Alten da noch ernst nehmen?"


Dem Meister wurde hinterbracht, wie die 

Neuerer und wie die Mandarine über ihn 

redeten. Er lachte nur. Und da die Seinen ihn

um eine Erklärung baten, sagte er:


"Es gibt die Wirklichkeit, ihr Knaben, und an

der ist nicht zu rütteln. Wahrheiten aber,

nämlich in Worten ausgedrückte Meinungen

über das Wirkliche, gibt es unzählige, und jede

ist ebenso richtig wie sie falsch ist."

Zu weiteren Erklärungen konnten ihn die

Schüler, so sehr sie sich bemühten, nicht bewegen.


Hermann Hesse


Zurück
Oben