Zum Abschluß meiner Stippvisite im Denkforum und im Anschluß an Rotkäppchens Wolf im vorhergehenden Beitrag hier noch ein paar weitere Zeilen aus meinen oben zitierten Texten
(Seiten 12 – 15).
Gedanken eines ewig jung gebliebenen Wolfes
im Februar 1995
Als die Hündin alt war, gaben sie ihr viel Zeit zum Nachdenken. Man konnte ja nicht ständig schlafen. Aber man konnte auch nicht mehr sehr weit laufen, weil dann das Atmen schwer wurde und man viel husten mußte. Man konnte auch nicht toben oder spielen, denn die Gelenke schmerzten doch schon sehr.
„Schwimmen kann ich noch, wenn sie mich lassen,“ dachte die alte Hündin. „Da bin ich doch gestern einfach in den Zierteich gesprungen, als sie mal wegsahen. Mitten im Winter. Ich hatte sofort gemerkt, daß da kein Eis drauf war, und hab mich einfach fallenlassen. Es war herrlich!“
Die Hündin leckte sich das an manchen Stellen noch immer nasse Fell und sah – wie häufig in der letzten Zeit -, daß dieses mehr und mehr das Rötliche verlor und grau wurde.
„Hoffentlich färben sie mich nicht,“ dachte die Hündin. „Ich bin dagegen, graues Haar zu färben. Das täuscht doch über Alter nicht hinweg. – Alter war’s ja auch, daß ich den Zierteich nicht allein verlassen konnte, als nach dem Rumpaddeln die Puste wegblieb. Ein Glück, daß sie mich grade da entdeckten.“
Die Hündin lachte vor sich hin. „Wie die sich graulten, in den Teich zu springen. Bei dieser Kälte. Und sich naß zu machen. Mitten im Winter.“
Die Hündin gähnte ein bißchen. Nicht so sehr aus Müdigkeit. Eher wegen des Sauerstoffs zum Denken.
„Und wenn sie erst mal träufelig sind, entstehen viele kleine Löcher. Einst ausgefüllt von Interesse, Weitsicht, Mitleid. Jetzt halbhohle Zentren ohne Lebensfreude. Die ihnen die Augen nach innen drehen, wo sie nur noch sich selbst sehen können. Gefühl, das dann noch bleibt, ist nur der Zorn, allein zu sein.“
Die Hündin war froh, daß sie früher zu den Wölfen gehörte. Die hatten ihr beigebracht, jung zu bleiben auch im Alter. Freude zeigen zu können (Hunde wedeln immer), Humor zu haben (Hunde schwimmen manchmal im Winter), auf andere zuzugehen (auch dann, wenn sie gelegentlich nach ihnen schnappen) – und nur so viel zu fressen, wie man ihnen vorsetzt. Und nachdenklich zu bleiben. Und vordenklich.
„Vordenklich?“ fragte sich die Hündin. „Ich glaube, dieses Wort ist nicht bekannt. Aber denke ich nicht vor, wenn ich von Anfang an bemüht bin, mein letztes Jahr auch zu genießen? Das letzte meines Lebens wie das vergangene letzte.“
Im vergangenen Jahr war die Hündin vierundachtzig Menschenjahre alt geworden.
„Nur,“ dachte sie, „ist Genuß in Einsamkeit verwerflich. Das sind doch nur Genüsse, die man verstecken muß. Wie geklautes Brot. – Die erlaubten Genüsse -, die schmecken. Das sind die, die sie einem hinstellen. Die Kontaktaufnahme-Genüsse. Da wedelt man und hopst, so gut es geht, und bellt – und kann es nicht erwarten. Die Hand, die sich zum Futternapf bewegt, ist wie die Hand, die einem Kind gegeben wird. Da verlieren sich die Größenunterschiede. Die Kontakt-Momente sind sehr intensiv. Und das macht Alter schön.“
Die Hündin mußte sich kratzen. „Es juckt mich nicht, daß ich alt bin,“ freute sie sich. „Weil ich eben vordenklich war. Mit dem Genießen. Das immer noch irgendwie möglich ist, solange man sich den Kopf beweglich hält.“
Dann legte sie ihren Kopf auf die Vorderpfoten, um ihn sorgfältig zu schonen. Gegen die kleinen Löcher. Gegen die Inkontinenz des Geistes.
Und gegen Perseverationen über die eigene Person -, die eine Kontaktaufnahme nicht mehr zulassen würden.
(Sie starb 1996. Noch im Sterben wedelte sie.)