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Die Rückkehr zum Meer

Sunnyboy

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10. März 2005
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542
Die Rückkehr zum Meer

Ich beobachte die Möwe, die über das Wasser rauscht. Ich rieche den salzigen, frischen Geruch des Meeres, lausche den Wellen, die in fast regelmäßigen Abständen auf den Strand rollen. Das Meer. Zum ersten mal seit zehn Jahren, zum ersten Mal seit dem Tod von Marco, hier an diesem Strand, sehe ich das Meer wieder. Komisch, heute kommt es mir so friedlich vor.
Ganz anders als an jenem Tag vor zehn Jahren, als eine große Menschenmenge am Meer stand und zuschaute, wie zwei Mitglieder der Küstenwache einen bleichen, leblosen Körper aus dem Wasser zogen. Eine Leiche. Die Leiche meines besten Freundes. Marcos Leiche.

So, wie diese Möwe über das Meer in Richtung Horizont gleitet, so gleiten meine Gedanken immer weiter zurück in die Vergangenheit

Marco und ich, wir waren damals beide siebzehn und die besten Freunde. Wir hatten uns mit sieben Jahren im Fußballverein kennen gelernt und waren seitdem unzertrennlich Ich war still, schüchtern und motorisch ziemlich ungeschickt. Marco dagegen war fröhlich, aufgeschlossen und sportlich. Das ist aber nicht immer so gewesen. Bevor er in die Tanzschule kam, war er so wie ich: still, schüchtern und immer etwas mürrisch. Doch dann begann er zu tanzen, und er blühte richtig auf. Von da an verbrachte er jeden Tag in der Tanzschule. Man konnte mit gutem Recht sagen, Tanzen war sein Leben. Was man von mir nicht gerade behaupten konnte: Es gab keinen Tanz, bei dem ich meine Tanzpartnerin und mich nicht in ein tödliches Geschoss verwandelte, was sich stets unkontrolliert über die Tanzfläche bewegte. Marco konnte darüber nur den Kopf schütteln. Bald gab er mir Nachhilfe im Tanzen, und so wurde ich ein bisschen besser.
Es war eine schöne Zeit. Eine glückliche Zeit.

Ich hebe meinen Kopf und schaue zum Horizont, dorthin, wo die Möwe nach wie vor stetig hinfliegt. Es türmen sich langsam dunkle Wolken dort hinten auf. Ein Unwetter
zieht auf.

Diese glückliche Zeit sollte ein jähes Ende finden. Eines Abends fuhr Marco von der Tanzschule mit dem Fahrrad nach Hause. Wahrscheinlich war er in Gedanken bei irgendwelchen Tanzschritten, oder bei seiner hübschen Tanzpartnerin, jedenfalls merkte er nicht, dass ihm ein Auto, das auf der falschen Seite fuhr, entgegen kam. Wie wir später erfuhren, war der Fahrer betrunken. Erst im letzten Moment sah Marco das Auto und versuchte auszuweichen. Doch er stürzte und das Auto rollte über sein Bein. Die Quetschungen waren so schlimm, dass das Bein amputiert werden musste: Das war das Ende von Marcos Tanzkarriere.
Nein.
Es war das Ende von Marcos Leben.

Die Wolken am Horizont werden größer und dunkler, der Himmel sieht unheimlich aus.

Zunächst kam Marco noch in die Tanzschule und schaute uns zu. Ich sah seinen sehnsüchtigen, traurigen Blick, der uns über die Tanzfläche folgte. Nach den Tanzstunden ging unser ganzer Kurs zusammen mit Marco in die benachbarte Kneipe, um ihn etwas aufzuheitern. Doch Marco sprach kaum, redete kaum. Es tat mir weh, meinen besten Freund so zu sehen. Marco zog sich immer mehr von uns zurück. Nicht nur von uns. Von allen. Man sah ihn nur noch in der Schule. Doch der Marco, den wir dort sahen, war nicht mehr der, den wir kannten: Marco ließ sich gehen, das konnten wir alle sehen: seine ungepflegten Haare, seine ungewaschene Kleidung, seine lustlose Körperhaltung und sein leerer Blick zeigte uns, wie trostlos Marcos Leben war. Eine andere Sache aber sah nur ich, glaube ich zumindest, denn außer mir hat es nie jemand erwähnt: die Schnittwunden an seinem Arm.
Oft zog sich Marco alleine auf sein Zimmer zurück. Dort legte er sich still aufs Bett und hörte mit voller Lautstärke irische Volksmusik. Es ist eigenartig, wenn ich mir meinen besten Freund vorstelle, der sich auf seinem Zimmer mit Rasierklingen schneidet, während die „Dubliners“ „There’s Whiskey in the jar.“ durch die Lautsprecher grölen.

Langsam fängt es an kalt zu werden. Ich ziehe meinen Mantel enger an. Der Wind fängt an stärker zu werden.

Auch in der Schule ging es bergab. Marco verlor immer mehr Freunde, weil sie mit seiner merkwürdigen Art nicht mehr zurechtkamen. Vielleicht wussten sie aber auch nicht, wie sie mit seiner Behinderung umgehen sollten. Oder vielleicht hatten sie auch kein Interesse mehr an Marco, nachdem er nicht mehr der „coole“, selbstsichere Sportler war. Vielleicht hätte ich damals etwas sagen sollen, hätte die anderen ermahnen sollen, aber ich sagte, wie immer, nichts. Marco litt unheimlich, ich konnte es an seinen Schnittwunden erkennen, die immer mehr wurden und immer schlimmer aussahen. Dennoch muss es ihm gelungen sein, die Verletzungen vor den anderen, auch seinen Eltern zu verbergen, denn keiner kann sich erinnern je welche bei ihm gesehen zu haben. Warum hat er bei mir nie Anstalten gemacht seine Verletzungen zu verstecken? War es ein Hilferuf? Aber warum hat er nie etwas gesagt? Ich werde es nie begreifen.

Der Wind beginnt das Wasser aufzuwühlen, das Meer rollt jetzt schneller in Richtung Strand. Kleine weiße Schaumkronen sind schon auf den Wellen. Das Geräusch des Meeres, es wird lauter, energischer.

Wahrscheinlich hat Marco den Plan, einfach Schluss zu machen, schon ziemlich lange gehabt und sich nur nie überwinden können. Doch dann, eines tages im Matheunterricht geschah es dann: Marco hatte seine Hausaufgaben nicht, wie immer, seit der Sache mit dem Autounfall. Der Lehrer informierte am Abend seine Eltern, ich war zufällig da. Sein Vater schrie ihn an, er solle sich gefälligst nicht so gehen lassen. Überhaupt sei er ein faules Stück, dass seine Behinderung nur als Ausrede benutzte, um seine Mitmenschen dazu zu bringen, ihn zu verhätscheln. Ich habe die Wut in Marcos Augen gesehen. Ich wollte noch mit ihm reden, doch er schloss sich wieder in seinem Zimmer ein. Bald bin ich nach Hause gegangen.

Der Sturm gibt sich jetzt keine Mühe mehr, sich zurück zu halten. ein gewaltiger Wind zerrt an mir, versucht, mich von den Beinen zu holen. Ich klammere mich an das Geländer an der Promenade. Aus irgend einem Grund gleitet mein Blick zu der Möwe: sie schaukelt hin und her, der Sturm macht auch ihr zu schaffen.

Am nächsten Morgen fand ich einen Brief in unserem Briefkasten. Er war von Marco.
Ich öffnete ihn.
„Erinnerst du dich noch an unsere Klassenfahrt nach Frankreich? Damals habe ich zum erstenmal getanzt. Auf der Uferpromenade mit Jeanne...Nur noch einmal tanzen. Noch einmal. Leb wohl, danke für alles, dein Marco.“ Das Datum des Briefes verriet mir, dass er am Vortag geschrieben worden war.
Ich rief seine Eltern an und erzählte ihnen von dem Brief. Sie aber meinten nur, der Junge würde im Moment einfach ein bisschen spinnen und sei im Übrigen nur auf Aufmerksamkeit aus. Außerdem habe er ja keine Sachen zum Schlafen oder Zähneputzen mitgenommen. Mir war klar, dass er für das, was er vorhatte keinen Schlafanzug und keine Zahnbürste brauchte. Marco war schon lange nicht mehr der, der er mla war, und ich wusste, dass es ihm in Valras-Plage nicht nur ums Tanzen ging. Ich hatte Angst, meinen besten Freund nicht wieder zu sehen.
Als ich merkte, dass ich bei seinen Eltern nichts erreichen konnte fasste ich einen Plan: ich würde selbst mit der Bahn Marco hinterherfahren. Nach Valras-Plage in der Normandie, dort, wo wir unsere Klassenfahrt hingemacht hatten, dort, wo Marco auf das Tanzen gestoßen war. Dort, wo sein neues Leben begonnen hatte.
Als ich am nächsten Tag in Valras-Plage ankam, erkundigte ich mich nach einem jungen Deutschen, der gehbehindert war und wahrscheinlich äußerst ungepflegt aussah. Nachdem ich einige Leute gefragt hatte, sagte mir eine Alte Frau, dass sie einen eigenartigen jungen Mann gesehen hatte der die Uferpromenade entlang getorkelt war. Wahrscheinlich wieder so ein betrunkener Tourist. Doch ich wusste: es war Marco, der „noch einmal“ getanzt hatte. Und es tat weh zu hören, dass das, was er einst mit soviel Grazie getan hatte nun nur noch wie betrunkenes Torkeln auf die anderen wirkte. Gerade wollte ich der Frau erklären, dass es wahrscheinlich kein Betrunkener war, den sie gesehen hatte, als ein Krankenwagen und ein Notarztwagen die Straße entlang in Richtung Meer rasten. Ich ließ die alte Frau stehen und rannte hinterher.
Am Strand hatte sich bereits eine große Menschenmenge versammelt. Ich schob mich durch die Masse hindurch, und sah zwei Mitglieder der französischen Küstenwache einen leblosen Körper aus dem Wasser trugen. Sie legten sie auf den Strand. Der Notarzt beugte sich über den Körper. Dann schüttelte er den Kopf. Als er weg ging sah ich Marcos Gesicht. Bleich. Leer.
Dann sah ich gar nichts mehr. Mir wurde schwarz vor Augen.

Später erfuhr ich, das Marco Drogen genommen hatte um sich zu betäuben. Dann ist er einfach ins Meer gegangen. Wahrscheinlich hat er von seinem Tod nicht mehr viel mitbekommen. Wenigstens das, dachte ich.

Der Sturm hat sich wieder gelegt. Das Wasser glättet sich. Ich schaue nach der Möwe. Sie ist weg. Ich habe das Gefühl, allein zu sein. Ich drehe mich um und gehe.
Mach es gut, Marco.
 
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Lieber Sunnyboy!

Deine Geschichte hat mich tief berührt - die Geschichte selbst, und die Weise, wie Du sie erzählt hast. Du hast eine schöne, einfache Sprache - ich habe alles beim ersten Lesen sehr leicht verstanden. Du kannst Dir schon vorstellen, daß ich als Nichtdeutschsprachiger auf die Sprache sehr sensibel bin.

Mir hat es sehr gut gefallen, wenn Du die zwei Handlungen parallel erzählst: Du in Valras - das Meer und die Möwe - und zwischendurch die traurige Geschichte von Marco (und doch mit einigen lustigen Elementen, wie Deine Tanzweise!).

Ich bin eben an der Atlantik-Küste - nachdem ich zum ersten Mal Deine Geschichte gelesen habe, war ich am Strand und sah Meer und Möwen - und Sonne - und ich dachte mit immensen Sympathie an Sunnyboy und Marco...

Ich danke Dir.

Sei herzlichst gegrüßt von Deinem Freund
Bécir

P.S. Darf ich nur eine geographische Bemerkung machen? Aber das spielt wirklich keine Rolle! Valras ist nicht in der Normandie (Atlantik-Küste), sondern in Südfrankreich, am Mittelmeer).
 
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