AW: Die Gewissheit als Religion
Jetzt fühle ich mich wirklich missverstanden. Ich will hier etwas Ruhe in die Diskussion bringen, auch Ruhe in meine eigene Argumentation. In mir ist durch diese Diskussion mit euch ja jetzt etwas für mich Neues herangereift.
Bitte lasst mich das langsam mit euch durchdenken. Und wirklich: ich hätte gern von euch allen gehört, wo ich da irre.
Ich wollte als erstes darauf hinaus, dass der Satz des Pythagoras nicht immer zum "Wissen" der Menschheit gehört hat. Aber beim Bauen von Häusern haben die Menschen schon lange vor ihm gewusst, dass die Verhältnisse 3 zu 4 zu 5 ein rechtwinkliges Dreieck ergeben (9 + 16 = 25). Man hat in Ägypten meines Wissens auch solche Maßwerkzeuge gefunden.
Damals haben die Menschen einfach daran geglaubt, dass das hinhaut, und in der Realität haben sie es ja auch gesehen: sonst wären die Häuser ja alle empfindlich schief und baufällig geworden. Diese Menschen konnten sich also ein eigenes Urteil durch Überprüfbarkeit in der realen Welt bilden. Dazu musste ihnen keine Gottheit sagen, dass das passt und wirkt.
Pythagoras hat diesen "Glauben" der Menschen zu allgemeinem Wissen gemacht, indem er eine allgemeine Formel und einen mathematischen Beweis dazu aufgestellt hat, dass die immer hinhaut.
Sollte nun in irgendeinem Heiligen Werk etwas drinstehen, was dem Satz des Pythagoras widerspricht, dann ist Pythagoras aber näher an der realen Wahrheit über ebene, rechtwinklige Dreiecke als dieses fiktive Heilige Werk. Ich kann seinen Satz nämlich hier in der Welt überprüfen. Und das stört auch keinen normalen Menschen: das Heilige Werk ist ja kein Buch über Mathematik oder Baukunst!
Aber: was immer jemand aus dem Satz des Pythagoras über den Sinn des Lebens und den richtigen Weg in ein mögliches Paradies ableiten sollte, das ist deshalb nicht näher an der Wahrheit zur Sinnfrage; bloß, weil sein Satz hier in der Welt gilt. Der Satz von Pythagoras hat absolut keinen Bezug zu Gottesfragen.
Daher folgere ich (und bitte korrigiert mich hier):
Dreiecke kann ich persönlich überprüfen und mir ein persönliches Urteil bilden. Damit bin ich immer näher an der Wahrheit über Dreiecke, als irgendeine Heilige Schrift.
Aber die Wahrheit über Gott, nicht über Dreiecke, die kann mir nur Gott sagen. Die kann ich nicht überprüfen, so lange ich nicht vor ihm stehe.
Und: dasselbe gilt für die Evolutionstheorie, die Stringtheorie und jede andere wissenschaftliche Theorie über etwas Weltliches: wenn es gelingt, dafür Argumente, Indizien und Hinweise zu finden, dann sind das immer weltliche Argumente, Indizien und Hinweise. Überprüfbar hier auf der Welt. Oder eben noch zu neu und unausgereift, um überprüft werden zu können. Na und? Und natürlich kann sie nicht jeder überprüfen, wenn ihm das Fachwissen dazu fehlt. Aber dieses fehlende Fachwissen durch einen Blick in eine Heilige Schrift ersetzen zu wollen, das halte ich echt für Unfug.
Es gibt sicher keine Heilige Schrift, die sich ernsthaft im Detail mit irgendeiner wissenschaftlichen Theorie befasst. Wäre das die Absicht Gottes gewesen, dann hätte er ja Darwin vorausgesehen und ihm im Buch Genesis namentlich eine Abfuhr erteilt, oder?
Daher gibt es Wissen über die Welt. Klarerweise Wissen im Wandel, in der Diskussion, im Absichern und wieder Verwerfen, im Vermuten, Glauben, Beweisen, Streiten, Verbessern usw. Wissen ist ein Prozess. Aber ohne, dass dazu Gott nötig wäre.
Alle Aussagen über Gott jedoch sind reiner Glaube. Auf dieser Seite des Glaubens geht einfach nichts ohne Gottes letztes Wort.
Das ist für mich der Unterschied zwischen Wissen und Glauben. Was sagt ihr dazu?
Übrigens, Scherz am Rande: wenn ich vor Gott stehe, dann werde ich ihn höflich fragen, ob er mir ein ebenes, rechtwinkliges Dreieck bringen kann, für das der Satz des Pythagoras nicht gilt. Ich will einfach sehen, wie Gott der Allmächtige das dann macht... 
lg Frankie