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AW: Dichtende Denker


AHASVER


In London sah ich den, der sterben wollte

Warum - er hatte genug.

Er war fünfzig Jahre alt oder fünfzigtausend.

Wenn er an einen Ort kam, den er nicht kannte

Dachte er, hier war ich schon einmal.

Wenn er eine Stimme hörte, die ihm fremd war

Horchte er auf - wer ist's von meinen Freunden?


Unzählige Jahre lang hatte er jeden Abend

Am Fenster gestanden und die Zeitung aus Licht gelesen

Ihre Lettern sprangen hervor hinterm Felsen der Nacht.

Sein Hemd war von Seide, doch unter dem seidenen Hemde

War sein Rücken von Narben und Striemen gezeichnet

Eine Karte der Leiden. Seine Knie waren geschwollen

Weil er im Schnee knien mußte, irgendwo hinter den Bergen.

Fluchtwege waren in seine Stirn gegraben.

Ein Fuß war lahm - vom Sturz auf welchem Pfad?


Als ich ihn sah, fuhr er im Hotel Ritz

Sieben Stockwerke hoch in der Spiegelkammer

Die Hand auf seinem gelben Lederkoffer

Den Blick gerichtet in die alten Augen

Die milchigen, voll kleiner roter Flüsse

Des anderen Herrn Ahasver.


Als ich ihn sah, stand er in seinem Zimmer

Packte den Koffer aus, bestellte Tee

Und spielte Harfe auf den Messingstäben

Den goldenen an seinem Totenbett.


Als ich ihn sah, schrieb er sein Testament

Ein Gebirge von Zahlen, aber darüber ein Auge

Brauenlos starr und rein wie das Auge der Bibel.

Im Bauch seiner Teekanne sah er sich selbst, verzerrt

Mit gewaltig lachendem Munde. Er nahm den Hörer auf

Die schwarze Muschel rauschte wie das Meer.

Er hatte Lust von jemandem Abschied zu nehmen.

Good bye everybody from Ahasver.

Aber natürlich sagte er keinen Ton.

Er warf seinen Tod in den Tee und trank seinen Tod.

Der Tee schmeckte bitter wie ausgekochter Lorbeer.

Aber der Tod schmeckt nach nichts. Er bahrte sich auf

Seine Steppdecke war grün wie eine Apfelwiese

Mit kleinen Blumen bestreut. Sehr aufrecht saß er

Und sank dann um und starb den königlichen

Den Tod im Bett. Nur daß er leider

Vergessen hat, die Tür abzuschließen

Und daß der Kellner kommt und man ihn fortführt

Und ihm den Magen auspumpt, Tod und Lorbeer.

Er schlägt die Augen auf und um ihn her

Stehen seine schönen vorwurfsvollen Töchter.

Ich schlafe so schlecht, sagt Herr Ahasver.


Marie Luise Kaschnitz


Aus: Kaschnitz - Gedichte - Insel Verlag






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