Evolution vs. Selbstmordattentat (Szientismus vs. Sinn)
Gestern sah ich in einer Ausstellung eine Videoinstallation mit dem Titel "Selbstmordwettbewerb". Zu Bildern, die keinen unmittelbaren, illustrativen Bezug zum Titel hatten, las eine sonore Stimme einen Text vor. Dieser war vom Erzählrhythmus bewusst dem makabren, vielleicht sogar zynischen Thema völlig unangemessen, nämlich viel zu unterhaltsam und erzählerisch. Beschrieben wurden die 12 Selbstmorde der 12 Kandidaten.
Ich weiß nicht warum – die Installation hat es nicht direkt provoziert – ich musste an Selbstmordattentate denken. Und schließlich an diesen Thread.
Da gibt es also Menschen, die ihrem Leben durch ihren Tod einen Sinn geben. Aber auf eine ganz und gar andere Art als ich mir das je denken könnte. Dieser Tod braucht ein Jenseitsversprechen – das ist ein Punkt. Ein anderer Punkt – und hier spekuliere ich bloß – dieser Tod ist in ein ganz anderes soziales Gefüge eingebunden. Ein Gefüge, wo Wissen etwas ist, was von Generation zu Generation weiter gegeben wird. Wo Tradition etwas ist, was dem Rhythmus von Leben und Sterben folgt: eine lebendige (!) Familie. (Daher hängt dieses Thema übrigens, wie mir scheint, direkt mit dem Thread „Ausdifferenzierung und Identität“ zusammen.)
Gehört zum Thema Tod nicht auch das Thema Vorfahren/Nachfahren, also Familie? Bin ich unsterblich weil ich drei Kinder habe? In gewisser Weise ja. Damit meine ich nicht meine Gene. Wie sollte ich. Meine Gene liebe ich nicht, aber meine Kinder und meine Frau**. Gisbert Zalich schrieb aber: Natürlich gibt es einen Sinn des Sterbens. Er liegt in den biologischen Prozess der Evolution, Platz machen für die neuesten Programme, die neuesten "Computer". Dass Tod - szientistisch beschrieben - einen evolutionären „Vorteil“ hat, ist sicher richtig, es sagt aber doch nichts über seinen Sinn für den existierenden Menschen. Das ist eine ganz und gar andere Beschreibungsebene, auf der „ich persönlich“ und meine Lebenswelt gar nicht auftauche. Auf dieser Beschreibungsebene (Evolution) gibt es keinen Sinn und keinen Zweck, nur einen Mechanismus.
Wir leben in einer Welt, in der auf der einen Seite viele Menschen für ihre Selbstbeschreibung Beschreibungssysteme wählen oder akzeptieren, die ohne Begriffe wie Sinn und Ziel auskommen und eigentlich ihre Lebenswelt gar nicht beschreiben. (Die meisten Dinge geschehen ohne Sinn ... schrieb Mavaho)
Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die zu Mördern und Helden werden und von Kindheit an darauf vorbereitet werden, ihrem Leben durch einen Tod von eigener Hand einen Sinn für sich und (!) die anderen zu geben. Evolution vs. Selbstmordattentat. Szientismus vs. Sinn.
Beide haben Angst voreinander. Todesangst?
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** „Evolutionäre Argumente“ verkehren hier oft Ursache und Wirkung. Ich liebe meine Kinder nicht, weil sie meine Gene weiter geben. Nein, weil „wir“ lieben können, haben wir einen evolutionären Vorteil. Diese Liebe ist aber ganz und gar real, sie löst sich nicht in dieser szientistischen Beschreibung auf, die sagt nur, dass Liebe (als pars pro toto) in diese Welt passt! Aber, dass sie passt, ist nicht ihre einzige Eigenschaft, damit ist sie nicht vollständig beschrieben.