AW: Dein Wille geschehe - gibt es den freien Willen?
Also hat der Ausdruck "freier Wille" gar nichts mit Freiheit zu tun, wenn er doch nur soweit frei ist, wie er nicht an die Grenzen unseres vorgegebenen Gefängnisses (=unsere Lebensumstände) stößt. Das bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass der Begriff nicht richtig angewendet wird.
Woraus ziehst du diese Schlüsse? Welche Erfahrungen hast du gemacht, die dich so sicher machen, dass da der freie Wille im Spiel war/ist?
Die Art, wie wir in der Welt agieren, hat mehr mit der Erfüllung unserer Bedürfnisse zu tun. Und diese Bedürfnisse sind wiederum von unseren Lebensumständen stark bestimmt. Bewerten hat eher etwas mit Gedanken zu tun als mit Handeln. Denken kann ich viel, aber den Willen einzusetzen heißt, auch zu handeln.
Ja, es ist eine Befreiung von Schuld. Von jener Schuld, die einer Verurteilung durch einen Richter entspricht. Eine solche Verurteilung verhindert nämlich die Eigenverantwortung eines Täters. Der entscheidet sich für eine Handlung, die er gar nicht anders durchführen konnte, als er es tat, und ist dennoch verantwortlich. Er ist mitverantwortlich, gemeinsam mit dem gesamten Universum. Und damit hat er auch die Möglichkeit, die Folgen seines Handelns wahrzunehmen, weil er nicht mit Entschuldigungen und Rechtfertigungen für schon Geschehenes beschäftigt ist, sondern einen freien Blick auf das hat, was als nächste Handlung zu setzen ist, um einen Fehler zu korrigieren.
Gibts die Komplexität nun oder nicht? Hängt alles zusammen oder nicht? Ob ein Schmetterling einen Tornado auslöst oder verhindert - wer kann das vorhersehen? Aber ob der Schmetterling überhaupt mit dem Flügel schlägt, hängt auch von den Umständen ab.
Wir können es einfach nicht ermessen, welche Auswirkungen unsere Taten haben. Aber dass sie Auswirkungen haben, das wissen wir.Wie wollen wir also entschieden, was "richtigerweise" zu tun ist? Wir können Meinungen austauschen, um zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen, aber auch das funktioniert nur, wenn schon Anknüpfungspunkte gegeben sind.
Wie ich schon weiter oben (bei der "Schuld" geschrieben habe: Verantwortung ist nicht das selbe wie Schuld. Wieso sollten wir uns nicht mehr verantwortlich fühlen? Wenn ich weiß, dass meine Handlungen, auch wenn sie das Ergebnis des Zusammenwirkens der Gesamtheit sind, weitere Handlungen nach sich ziehen, dann bin ich, quasi als Mittäter im ganzen Universum, auch mitverantwortlich. Ich brauche keine Rechtfertigung, aber ich habe das zu tun, was zu tun ist. Das Wissen um diese Zusammenhänge bewirkt sogar ein stärkeres Verantwortungsgefühl, weil mein Tun ja nicht nur vor einem "imaginäre Gott" Bestand haben muss, sondern Auswirkungen auf das Gesamtgefüge des Universums hat.
Solange ich mich mit fadenscheinigen Ausreden selbst beschwichtige, dass ich schon "das Richtige" getan hätte, nehme ich die Auswirkungen meines Handelns gar nicht wahr. Das "Richtige" ist dabei allerdings nichts als eine Kopfgeburt, ein idealisiertes Weltbild. Das was ich wirklich tue, wird dabei nicht gesehen, wenn es nur in einer angeblich "guten" Absicht getan wird.
Unsere Handlungen sind nicht so frei, wie uns unser Denken oft vorgaukelt.
Die neurobiologischen Erkenntnisse werden mMn auch als Gratwanderung zum Determinismus gesehen. Es ist für mich aber kein Wunder, dass das geschieht. Denn solange Schuldzuweisung notwendig ist, sind Argumente, die "falsche" Handlungen rechtfertigen können, zur Verteidigung notwendig.
Zur Ergänzung: Ich sehe uns Menschen als Teil der Natur, als gleichwertigen Mitspieler im Universum. Wir haben dennoch eine Sonderstellung, die uns aber nicht erlaubt, uns wichtiger als alles andere zu nehmen.
Die Sonderstellung hat etwas damit zu tun, dass wir Zusammenhänge in einem gewissen Umfang erkennen können. Wir haben gewisse Gesetzmäßigkeiten erkannt, nach denen die Abläufe in der Natur funktionieren. Wir haben mit Hilfe der Technik gelernt, uns bequemer mit der Natur zu arrangieren.
Aber wir haben noch sehr wenig davon erkannt, wie wir selbst funktionieren. Ich meine nicht, wie wir biologisch aufgebaut sind, sondern die Zusammenwirkung unseres Denkvermögens mit der Umsetzung in Handlungen. Es verwundert mich oft, wie stark sich viele Menschen mit ihrer Meinung identifizieren, so dass sie davon überzeugt sind, das sei die absolute Wirklichkeit. Sie treffen Entscheidungen, die sich nicht aus der bestehenden Realität ergeben, sondern aus ihren Denkmodellen und wundern sich nachher, dass sie dauernd mit irgendetwas oder irgendjemandem Schwierigkeiten haben.
Sogar bei jenen, die sich in der "geschlossenen Abteilung" Philosophie umtun, jene, die fähig sind, Fragen zu stellen und neue Antworten von mehreren Seiten zu betrachten, ist es noch sehr üblich, das alltägliche Tun unhinterfragt zu lassen.
So geschieht es, dass die alten Meister der Philosophie und der Religionen fast mit Ehrfurcht gelesen und durchdacht werden, das eigene Leben aber davon unbeleckt bleibt.
herzlich
lilith
P.S.: Mit diesem Thema beschäftige ich mich schon seit einigen Jahren, nicht nur in der Theorie. Es war auch meine Hauptmotivation, mich hier im Forum einzubringen und umzuhören. Verzeiht mir also bitte meine "Ausschweifungen", ich komme da leicht vom Hundersten ins Tausendste. 