Alles im richtigen Maß !
Im deutschsprachigen Fundus von Spruchweisheiten befinden sich etliche Sprüche
mit Hinweisen auf die Bedeutung von Ausgewogenheit und Angemessenheit;
mit Hinweisen auf die Notwendigkeit, ein kategorisches Entweder-Oder zu meiden,
und stattdessen ein gut ausbalanciertes Sowohl-als-Auch anzustreben.
Es gilt, die "goldene Mitte" zwischen extremen Polen zu finden,
bzw. ein ausgewogenes Verhältnis einander widerstrebender Kräfte.
Dazu nur 3 Beispiele aus dem Spruchweisheitenschatz:
"Zuwenig und zuviel, das ist des Narren Ziel."
"Die Wahrheit liegt in der Mitte."
"Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen,
die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden."
Diese Sprüche mögen ziemlich banal wirken, aber selbst das Banalste
kann bedeutsam werden, wenn es zu lange ignoriert wird.
In unserer Gesellschaft wird derzeit die Notwendigkeit einer Ausgewogenheit
viel zu wenig berücksichtigt, weshalb wir immer öfter konfrontiert werden
mit den Auswirkungen von ausufernder Gier gepaart mit Skrupellosigkeit,
oder von ausufernder Oberflächlichkeit und Vergnügungssucht.
Dabei liegt die Notwendigkeit von Ausgewogenheit und Angemessenheit
in vielerlei Lebensbereichen ganz offen auf der Hand, man muss wahrlich
kein Philosoph sein, um sie zu erkennen (ganz abgesehen davon, können sich
gerade die Philosophen schon mehrere Jahrtausende lang nicht darüber einigen,
in welchen Situationen das "tertium non datur" nun tatsächlich gelten soll).
Wie häufig wir es mit Verhältnissen zu tun haben, in denen das Optimum
zwischen zwei Extremen anzustreben ist, das soll die folgende Liste
mit stichwortartigen Skizzen illustrieren.
- Eine Prise Salz verbessert den Geschmack einer Suppe
und macht sie bekömmlicher; eine versalzene Suppe ist ungenießbar.
- Körperliche Anstrengung erhöht die Leistungsfähigkeit
und stärkt die Gesundheit ("Use it, or lose it");
Überbelastung schädigt den Körper.
- Hygiene ist grundsätzlich gesundheitsfördernd;
übertriebene Reinlichkeit schwächt das Immunsystem
und erhöht die Anfälligkeit für Krankheiten und Allergien.
- Genussmittel wirken in schwacher Dosis anregend und aufheiternd;
zu stark dosiert sind sie tötliches Gift.
- Der Aktivitätsgrad unserer Organe wird von den Antagonisten
Sympathikus und Parasympathikus geregelt; wo der eine anregend wirkt,
dämpft der andere. Im Zustand der Gesundheit herrscht ein ausgewogenes
Kräfteverhältnis zwischen den beiden Antagonisten.
- Weder das Klima in der Sahara ist dem Leben förderlich,
noch das Klima am Nordpol oder Südpol.
In der gemäßigten Klimazone blüht und gedeiht das Leben.
- Rationale versus emotionale Reaktionen
Vernunftbetontes Verhalten ist positiv,
soferne dabei die Gefühlswelt nicht vernachlässigt wird.
- Kurzfristige versus längerfristige Orientierung
Kurzfristige Vorteile und Erfolge sind positiv, soferne sie längerfristig
keine schweren Nachteile oder Schäden nach sich ziehen.
- Initiative und Aktivität sind positiv
("Frisch gewagt, ist halb gewonnen"), soferne sie von ausreichender
Planung und Kontemplation begleitet sind.
- Sorgfalt bei allen Unternehmungen ist positiv,
solange sie nicht in Pedanterie ausartet.
- Risikobereitschaft versus Sicherheitsbetreben
Vorsicht, Umsicht, und Behutsamkeit sind positiv,
soferne sie nicht als Überängstlichkeit jegliche Initiative lähmen.
- Reformen versus bewahren des Bewährten
Reformen sind positiv, soferne sie die Lebensbedingungen
vieler Menschen deutlich verbessern,
und nicht um ihrer selbst willen Bewährtes zerstören.
- Arbeit versus Spiel
Einen Beitrag zum materiellen Lebensunterhalt leisten ist positiv,
solange auch die immateriellen Bedürfnisse
und die notwendige Erholung nicht vernachlässigt werden.
- Bedachtnahme auf Nützlichkeit ist positiv,
solange Moral oder Ästhetik nicht vernachlässigt werden.
- Sparen und Zukunftsvorsorgen sind vernünftig,
soferne in der Gegenwart ausreichend konsumiert wird.
- Altruistisches Verhalten ist positiv, solange die Verantwortung
für das eigene Wohl nicht aus den Augen verloren wird.
- Bedachtnahme auf das Gemeinwohl ist positiv,
solange das Individualwohl nicht zu stark beeinträchtigt wird.
- Gemeinschaftssinn und Patriotismus sind positiv, solange sie nicht
zur Konstruktion von Feindbildern und zu Kriegshetze führen.
- Lernen aus der Geschichte und Traditionspflege sind positiv,
solange sie nicht zu verkrusteten Strukturen führen.
- Antiautoritäre Erziehung ist positiv, solange sie nicht
Orientierungslosigkeit und extrem niedrige Frustrationstoleranz
nach sich zieht.
- Der Ertrag eines Unternehmens muss zwischen Arbeitgeber
und Arbeitnehmern gerecht aufgeteilt werden.
- Weder ein Linksextremismus noch ein Rechtsextremismus
ist wünschenswert.
- aus Barmherzigkeit mogeln vs brutal die ungeschminkte Wahrheit sagen
- Zentrale vs dezentrale Entscheidungsbefugnisse
- Abwechslung vs Gleichförmigkeit
- Fleischliche vs pflanzliche Ernährung
- etc. ...
Verschiedene Menschen haben naturgemäß recht unterschiedliche Vorstellungen
von Ausgewogenheit, deshalb erscheint ein lebhafter öffentlicher Diskurs
über das richtige Maß höchst wünschenswert.
"Net amoil ignorieren" und so tun, als ob ohnehin ein breiter Konsens darüber
bestünde, welche Verhältnisse erstrebenswert sind, das ist meiner Meinung nach
die mit Abstand schlechteste Form des Umganges mit dieser Unterschiedlichkeit.
Gründliche Diskussionen über das richtige Maß werden aber eher selten geführt.
Vielleicht kann dieser Thread solche Diskussionen befördern.
Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.