Sunnyboy
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Auf einer Brücke
Eiskalt fiel der Regen auf die Stadt. Über dem Rhein hingen dunkle Wolken, Wolken die wie die Flügel eines Drachen, eines riesigen, tödlichen, dämonischen Monsters den Himmel bedeckten. Der Teenager, der dort am Brückengeländer lehnte, starrte in diesen Himmel und dachte an seine Eltern. „Da oben wohnt der liebe Gott,“ hatte seine Mutter gesagt, jedes Mal wenn sie gemeinsam in den Himmel schauten. Und als er das erste mal mit dem Flugzeug geflogen war, hatte er von Zeit zu Zeit aus dem Fenster geschaut und gehofft, er könne den lieben Gott sehen. Er hat ihn aber nicht gesehen, so angestrengt er auch hingeschaut hat.
Als er daran dachte musste der Junge lächeln, aber es war ein zynisches Lächeln, ein Lächeln von jemandem, der über eine naive Dummheit lächelt. Komisch, dachte der Junge, damals war ich sechs. Jetzt, zehn Jahre später, hat sich nichts geändert. Ich bin immer noch ein kleines Kind, dass nach Gott Ausschau hält. Und das ihn nicht sieht.
Er schaute auf den Rhein, auf die kalte Flut, die seit unzähligen Tausenden von Jahren von den hohen Bergen der Schweiz in die Nordsee fließt. Wie viele Menschen darin wohl schon ertrunken sind? Wie viele Menschen haben diesen Fluss als ihr Grab gewählt?
Bald wird es einer mehr sein, dachte er, und presste sich noch enger an das Geländer.
Ganz nah presste er sich daran.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich so nah an die hübsche neue Schülerin aus Russland zu pressen. Sie wäre nicht so verflucht kalt gewesen. Er hatte sich schon ausgemalt, wie es gewesen wäre sie zu küssen und dann in ihre schönen, klaren Augen zu schauen und einfach nur glücklich zu lächeln. Und zu sehen, wie sie glücklich lächelt.
Doch statt an ihren warmen Körper presste er sich nun an das eiskalte Geländer. Und statt in ihre klaren Augen schaute er auf den undurchsichtigen Fluss, der eiskalt seinen Weg gen Norden fortsetzte. Eiskalt geht alles weiter. Alles fließt, hatte der griechische Philosoph Heraklit einmal gesagt. Eigentlich konnte der Junge Philosophen nicht ausstehen. Sie waren in seinen Augen nur widerliche Klugscheißer, die sich unnötige Fragen stellten und auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens Antworten zu haben glaubten, die jedoch absolut weit weg von jeglicher Realität waren. Eigentlich gab es nur zwei Sorten von Leuten, die er mehr hasste als die Philosophen: das eine waren die Theologen, das andere waren die Dichter der Romantik.
Die Theologen taten so, als würden sie jeden Sonntag beim lieben Gott zum Kaffeetrinken sitzen; sie verfassten mitunter arrogante, selbstherrliche Dogmen und führten sich auf, als würden nur sie die Wahrheit kennen, dabei tappten sie genauso im Dunkeln wie alle anderen Menschen auch.
Und was die Dichter der Romantik betraf: sie taten so, als wäre die Welt ein Rosengarten, voll mit bunten Blumen und grünen Wiesen, auf den alle Menschen glücklich tanzen könnten. Aber die Welt war nicht so. Und das hatte er nach sechzehn Jahren endlich erkannt.
Nein, nein, die Romantikdichter, Theologen und Philosophen konnte man getrost wieder vergessen. Aber dieser Spruch von Heraklit, der war etwas anderes. Er war nicht nur eine philosophische Theorie, die zwar sehr klug war, aber vollkommen an der Wahrheit vorbei zielte, nein, er war eine Wahrheit, eine Beobachtung aus dem wirklichen Leben.
Alles fließt, nichts bleibt ewig in seiner Form.
Komisch, dachte der Junge und schaute wieder hinab in die Flut.
Seine Gedanken wandten sich wieder Gott zu. Wo war er? Wo, verdammt?
Oder hatte er Gott Unrecht getan? Hatte sich Gott ihm wirklich noch nie gezeigt?
Einmal, nein sogar zweimal hatte er das Gefühl gehabt, dass Gott ihm nah gewesen war.
Es war ihm beides mal verdammt dreckig gegangen: Eine Fünf in Physik, eine Fünf in Mathe waren es beim ersten mal gewesen. Er hätte damals das neunte Schuljahr wiederholen müssen. Dann wäre er aber nicht mehr mit seinen Freunden in der Klasse gewesen und auch nicht mit Janine, seinem damaligen Schwarm. Er ist damals vollkommen verzweifelt gewesen, musste sogar diese Johanneskraut-Dragees essen, die die Nerven beruhigen. Und dann, an einem Abend, an dem er vollkommen mutlos gewesen war, als er im Bett gelegen und unaufhörlich geweint hat, da war es so, als ob plötzlich jemand am Fußende seines Bettes saß. Er schaute auf, dachte seine Mutter hätte sich zu ihm gesetzt, aber da war niemand. Jedenfalls niemand, den man mit den Augen sieht. Doch er hatte damals gefühlt, dass jemand bei ihm gewesen ist, jemand, der ihn getröstet hat, jemand, der mit ihm gelitten hat. Gott?
Das zweite mal war es ähnlich gewesen, wieder ist es ihm schlecht gegangen, und wieder hatte sich jemand an sein Bett gesetzt. In diesen beiden Situationen hatte er das Gefühl gehabt, dass Gott bei ihm war.
Der Junge lächelte zum ersten mal nicht mehr zynisch sondern aufrichtig. Doch dann fror sein Lächeln plötzlich ein. Das war die Vergangenheit. Aber was ist mit dem Jetzt? Plötzlich waren all die schönen Erinnerungen wieder weg. „Hab’ Vertrauen zu Gott“, hatte seine Mutter gesagt, als er ihr von seinen Sorgen erzählt hatte.
Aber das war einfacher gesagt als getan: warum sollte Gott sich erbarmen?
Weil er jung war?
Wie viele Kinder, die jünger waren als er, verhungerten in Afrika?
Weil er bis jetzt versucht hatte, ein gutes Leben zu führen?
Wie viele Menschen, die ein gutes Leben geführt hatten, lagen jetzt auf den Krebsstationen der Krankenhäuser?
Weil er Freunde und Verwandte hatte, die ihn liebten?
Wie viele Menschen sind bei Unfällen gestorben, die auch Verwandte hatten, die sie liebten?
Weil er noch so viel vorhatte?
Wie viele Menschen, die auch Tausende von Träumen hatten, starben, bevor sie sie verwirklichen konnten?
Nein, all das konnten nicht die Gründe sein, warum Gott ihm in seiner Not helfen sollte.
Welchen Grund sollte er haben?
Noch nie hatte der Junge sich so hoffnungslos gefühlt.
„Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?“ schrie er immer wieder in den Himmel.
Dann kletterte er über das Geländer und starrte auf das Wasser. Jetzt war keine Abgrenzung mehr zwischen ihm und dem Tod, der durch den Fluss verkörpert wurde.
Jetzt galt es. Er wollte springen, doch er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht.
Er kletterte zurück. Dann schaute er noch einmal in den Himmel. Obwohl dieser vollkommen mit Wolken überzogen war konnte man den Mond durch sie hindurch scheinen sehen. Und dann machten sie dem Mond vollständig Platz, und der Junge blickte auf den Mond. Er war wie ein Auge, das ihn ansah. Und er hatte das Gefühl, dass er Gott ins Gesicht schaute und dass dieses Gesicht ihm anbieten würde etwas zu sagen, wenn er wollte.
„Bitte sei mir gnädig. Oh, bitte, bitte.“ Er hatte zwar keine Ahnung, aus welchem Grund Gott ihm gnädig sein sollte, aber er hoffte darauf, dass er es war.
Mal sehen was passiert, dachte der Junge.
Und dann dachte er an Heraklit.
Alles fließt, nichts bleibt so wie es ist.
Nun lag es in der Hand Gottes, alles fließen zu lassen.
Der Junge drehte sich um, und ging langsam wieder nach Hause, hin und wieder einen Blick auf den Rhein werfend, der seinen Weg in Richtung Nordsee unaufhaltsam fortsetzte.
Eiskalt fiel der Regen auf die Stadt. Über dem Rhein hingen dunkle Wolken, Wolken die wie die Flügel eines Drachen, eines riesigen, tödlichen, dämonischen Monsters den Himmel bedeckten. Der Teenager, der dort am Brückengeländer lehnte, starrte in diesen Himmel und dachte an seine Eltern. „Da oben wohnt der liebe Gott,“ hatte seine Mutter gesagt, jedes Mal wenn sie gemeinsam in den Himmel schauten. Und als er das erste mal mit dem Flugzeug geflogen war, hatte er von Zeit zu Zeit aus dem Fenster geschaut und gehofft, er könne den lieben Gott sehen. Er hat ihn aber nicht gesehen, so angestrengt er auch hingeschaut hat.
Als er daran dachte musste der Junge lächeln, aber es war ein zynisches Lächeln, ein Lächeln von jemandem, der über eine naive Dummheit lächelt. Komisch, dachte der Junge, damals war ich sechs. Jetzt, zehn Jahre später, hat sich nichts geändert. Ich bin immer noch ein kleines Kind, dass nach Gott Ausschau hält. Und das ihn nicht sieht.
Er schaute auf den Rhein, auf die kalte Flut, die seit unzähligen Tausenden von Jahren von den hohen Bergen der Schweiz in die Nordsee fließt. Wie viele Menschen darin wohl schon ertrunken sind? Wie viele Menschen haben diesen Fluss als ihr Grab gewählt?
Bald wird es einer mehr sein, dachte er, und presste sich noch enger an das Geländer.
Ganz nah presste er sich daran.
Eigentlich hatte er vorgehabt, sich so nah an die hübsche neue Schülerin aus Russland zu pressen. Sie wäre nicht so verflucht kalt gewesen. Er hatte sich schon ausgemalt, wie es gewesen wäre sie zu küssen und dann in ihre schönen, klaren Augen zu schauen und einfach nur glücklich zu lächeln. Und zu sehen, wie sie glücklich lächelt.
Doch statt an ihren warmen Körper presste er sich nun an das eiskalte Geländer. Und statt in ihre klaren Augen schaute er auf den undurchsichtigen Fluss, der eiskalt seinen Weg gen Norden fortsetzte. Eiskalt geht alles weiter. Alles fließt, hatte der griechische Philosoph Heraklit einmal gesagt. Eigentlich konnte der Junge Philosophen nicht ausstehen. Sie waren in seinen Augen nur widerliche Klugscheißer, die sich unnötige Fragen stellten und auf die wirklich wichtigen Fragen des Lebens Antworten zu haben glaubten, die jedoch absolut weit weg von jeglicher Realität waren. Eigentlich gab es nur zwei Sorten von Leuten, die er mehr hasste als die Philosophen: das eine waren die Theologen, das andere waren die Dichter der Romantik.
Die Theologen taten so, als würden sie jeden Sonntag beim lieben Gott zum Kaffeetrinken sitzen; sie verfassten mitunter arrogante, selbstherrliche Dogmen und führten sich auf, als würden nur sie die Wahrheit kennen, dabei tappten sie genauso im Dunkeln wie alle anderen Menschen auch.
Und was die Dichter der Romantik betraf: sie taten so, als wäre die Welt ein Rosengarten, voll mit bunten Blumen und grünen Wiesen, auf den alle Menschen glücklich tanzen könnten. Aber die Welt war nicht so. Und das hatte er nach sechzehn Jahren endlich erkannt.
Nein, nein, die Romantikdichter, Theologen und Philosophen konnte man getrost wieder vergessen. Aber dieser Spruch von Heraklit, der war etwas anderes. Er war nicht nur eine philosophische Theorie, die zwar sehr klug war, aber vollkommen an der Wahrheit vorbei zielte, nein, er war eine Wahrheit, eine Beobachtung aus dem wirklichen Leben.
Alles fließt, nichts bleibt ewig in seiner Form.
Komisch, dachte der Junge und schaute wieder hinab in die Flut.
Seine Gedanken wandten sich wieder Gott zu. Wo war er? Wo, verdammt?
Oder hatte er Gott Unrecht getan? Hatte sich Gott ihm wirklich noch nie gezeigt?
Einmal, nein sogar zweimal hatte er das Gefühl gehabt, dass Gott ihm nah gewesen war.
Es war ihm beides mal verdammt dreckig gegangen: Eine Fünf in Physik, eine Fünf in Mathe waren es beim ersten mal gewesen. Er hätte damals das neunte Schuljahr wiederholen müssen. Dann wäre er aber nicht mehr mit seinen Freunden in der Klasse gewesen und auch nicht mit Janine, seinem damaligen Schwarm. Er ist damals vollkommen verzweifelt gewesen, musste sogar diese Johanneskraut-Dragees essen, die die Nerven beruhigen. Und dann, an einem Abend, an dem er vollkommen mutlos gewesen war, als er im Bett gelegen und unaufhörlich geweint hat, da war es so, als ob plötzlich jemand am Fußende seines Bettes saß. Er schaute auf, dachte seine Mutter hätte sich zu ihm gesetzt, aber da war niemand. Jedenfalls niemand, den man mit den Augen sieht. Doch er hatte damals gefühlt, dass jemand bei ihm gewesen ist, jemand, der ihn getröstet hat, jemand, der mit ihm gelitten hat. Gott?
Das zweite mal war es ähnlich gewesen, wieder ist es ihm schlecht gegangen, und wieder hatte sich jemand an sein Bett gesetzt. In diesen beiden Situationen hatte er das Gefühl gehabt, dass Gott bei ihm war.
Der Junge lächelte zum ersten mal nicht mehr zynisch sondern aufrichtig. Doch dann fror sein Lächeln plötzlich ein. Das war die Vergangenheit. Aber was ist mit dem Jetzt? Plötzlich waren all die schönen Erinnerungen wieder weg. „Hab’ Vertrauen zu Gott“, hatte seine Mutter gesagt, als er ihr von seinen Sorgen erzählt hatte.
Aber das war einfacher gesagt als getan: warum sollte Gott sich erbarmen?
Weil er jung war?
Wie viele Kinder, die jünger waren als er, verhungerten in Afrika?
Weil er bis jetzt versucht hatte, ein gutes Leben zu führen?
Wie viele Menschen, die ein gutes Leben geführt hatten, lagen jetzt auf den Krebsstationen der Krankenhäuser?
Weil er Freunde und Verwandte hatte, die ihn liebten?
Wie viele Menschen sind bei Unfällen gestorben, die auch Verwandte hatten, die sie liebten?
Weil er noch so viel vorhatte?
Wie viele Menschen, die auch Tausende von Träumen hatten, starben, bevor sie sie verwirklichen konnten?
Nein, all das konnten nicht die Gründe sein, warum Gott ihm in seiner Not helfen sollte.
Welchen Grund sollte er haben?
Noch nie hatte der Junge sich so hoffnungslos gefühlt.
„Wo bist du? Wo bist du? Wo bist du?“ schrie er immer wieder in den Himmel.
Dann kletterte er über das Geländer und starrte auf das Wasser. Jetzt war keine Abgrenzung mehr zwischen ihm und dem Tod, der durch den Fluss verkörpert wurde.
Jetzt galt es. Er wollte springen, doch er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht.
Er kletterte zurück. Dann schaute er noch einmal in den Himmel. Obwohl dieser vollkommen mit Wolken überzogen war konnte man den Mond durch sie hindurch scheinen sehen. Und dann machten sie dem Mond vollständig Platz, und der Junge blickte auf den Mond. Er war wie ein Auge, das ihn ansah. Und er hatte das Gefühl, dass er Gott ins Gesicht schaute und dass dieses Gesicht ihm anbieten würde etwas zu sagen, wenn er wollte.
„Bitte sei mir gnädig. Oh, bitte, bitte.“ Er hatte zwar keine Ahnung, aus welchem Grund Gott ihm gnädig sein sollte, aber er hoffte darauf, dass er es war.
Mal sehen was passiert, dachte der Junge.
Und dann dachte er an Heraklit.
Alles fließt, nichts bleibt so wie es ist.
Nun lag es in der Hand Gottes, alles fließen zu lassen.
Der Junge drehte sich um, und ging langsam wieder nach Hause, hin und wieder einen Blick auf den Rhein werfend, der seinen Weg in Richtung Nordsee unaufhaltsam fortsetzte.