Suche nach Wurzeln.
Perivisor,
medusa hat zwar die Reaktionen auf das Gedicht von Günter Grass zum Anlass
für eine Suche nach den Wurzeln des Antisemitismus genommen,
ich denke aber, dass unter Antisemitismus etwas ganz anderes zu verstehen ist,
als die eindringliche Warnung vor einem israelischen Angriff auf den Iran.
Die Wurzeln des Antisemitismus offenzulegen, kann mMn sicher nicht schaden;
vor allem nicht, wenn zwischen einem real existierenden Antisemitismus,
und hysterischem Antisemitismus-Geschrei unterschieden werden soll.
Hier wurden ja schon mehrere Versuche unternommen, einige Wurzeln des Antisemitismus
aufzuzeigen.
Ein sachlicher Diskurs über Antisemitismus wird mMn jedoch durch mindestens
zwei Faktoren stark behindert und erschwert. Der eine Faktor ist der schon
angesprochene inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfes,
und ein weiterer Faktor ist die unzureichende Unterscheidung zwischen Aussagen
über eine konkrete Einzelperson und soziologischen Aussagen über Personengruppen.
Der inflationäre Gebrauch des Antisemitismusvorwurfes führt in letzter Konsequenz
zu einer Verwässerung und Verharmlosung des Antisemitismusbegriffes
(wenn rund 40-60 % der erwachsenen Bevölkerung als Antisemiten punziert werden,
dann kann A. ja wohl nichts wirklich Schlimmes sein). Offenbar laufen aber da draußen
in großer Zahl Leute mit partieller Kybernetikdrüseninsuffizienz herum, die hinter
jeder Hausecke und hinter jedem Hydranten einen gefährlichen Antisemiten lauern sehen.
Diese Leute machen de facto den Antisemitismus über die Hintertüre wieder salonfähig.
Die ungenügende oder gänzlich fehlende Unterscheidung zwischen Aussagen über eine
konkrete Einzelperson und soziologischen Aussagen über Personengruppen führt zu
Problemen, weil für Aussagen über konkrete Einzelpersonen andere Anforderungen gelten
als für Aussagen über Personengruppen.
Bei Aussagen/Urteilen über Einzelpersonen müssen Verallgemeinerungen oder
Pauschalisierungen vermieden werden.
Jedes Individuum hat einen Rechtsanspruch darauf,
ausschließlich auf der Basis des eigenen Verhaltens beurteilt zu werden.
Pauschalurteile wegen Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Sippenhaftung oder
kollektive Schuldzuweisungen sind strikte zu vermeiden.
Bei soziologischen Aussagen über Personengruppen sind hingegen Verallgemeinerungen
nicht vermeidbar.
Da solche Aussagen statistischer Natur sind und die relative Häufigkeit
des Vorkommens von Individuen mit bestimmten Merkmalen zum Gegenstand haben,
sollten sie korrekterweise auch in statistischer Terminologie formuliert werden.
Unglücklicherweise werden statistische Aussagen häufig als sperrig und unhandlich
empfunden, sodass häufig zu verkürzten Formulierungen gegriffen wird.
Solange aus dem Kontext ohnehin klar erkennbar ist, dass es sich um eine
statistische Aussage handelt, kann das ja noch als unbedenklich gelten.
Wenn dann jedoch eine solche verkürzte Aussage aus dem Zusammenhang gerissen wird,
verleitet das zu problematischen Fehlinterpretationen.
Schauen wir uns das am Beispiel des weit verbreiteten Klischees über Juden an,
das da lautet: "Juden sind besonders geschäftstüchtig."
Eine korrekte statistische Formulierung müsste lauten:
"Die relative Häufigkeit von besonders geschäftstüchtigen Individuen
ist in der Gruppe der Juden signifikant höher als in der Gruppe der Nichtjuden"
(in Zahlen ausgedrückt könnte das beispielsweise heißen: 15% bei den Juden,
aber nur 10% bei den Nichtjuden).
Soferne die der Aussage zugrundeliegenden Zahlenwerte empirisch abgesichert sind,
ist die statistische Formulierung unbedenklich,
an der verkürzten Form ist jedoch der statistische Charakter nicht mehr erkennbar,
was zur Verwechslung mit einer Aussage über eine konkrete Einzelperson verleitet.
Analoge Verhältnisse liegen bei praktisch allen Klischees vor.
Als statistische Aussage begriffen, beschreiben sie,
soferne sie empirisch abgesichert sind,
einen Aspekt der Realität;
als All-Aussage missverstanden, sind sie schlicht und ergreifend unzutreffend.
Das musste auch einmal in aller Klarheit gesagt werden.