hyperion
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Lou Andreas-Salomé – Essay
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud, IV. Jahrgang, Heft V, 1915/1916, Hugo Heller & Cie, Leipzig und Wien, S. 249-273.
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Nahezu üblich geworden war es seit einiger Zeit, der Wiener Schule ihre Betonung der Regressionen auf das anale Gebiet als eine Art von Rückständigkeit vorzuhalten,– ungefähr wie wenn, anstatt sachlicher Weitererörterung der Probleme, man sich lieber verbohre in den ausgerechnet unbehaglichsten Familienklatsch. Und doch ist eher Anlaß zu glauben, gerade dieser Punkt, mehr als irgend ein anderer vielleicht, harre erst noch endgültiger Erledigung,– schon allein weil er derjenige ist, auf den sich letztlich alle Reste der Verunglimpfung zurückziehen, die Freuds Hinweis auf den sexuellen Faktor entgegenstand und -steht. Denn wie stark der Widerstand dagegen auch von jeher gewesen ist und insbesondere gegen Freuds »infantile Sexualität«,– immer noch erscheint der Abscheu davor ganz erheblich geringer als der vor dem Analsexuellen speziell. Ja während man im ersten Fall sich über die Zumutung empört, des Kindes Zärtlichkeiten durch das Wort »sexuell« zu besudeln, erweist sich im zweiten Fall dies verfemte Sexuelle seinerseits empörend besudelt durch seine Bezugnahme auf Anales. Wie ja auch die kindlich zärtlichen Auslassungen am elterlichen Körper in jeder Form gerührten Blickes betrachtet zu werden pflegen und sich unbeschränkt gehen lassen dürfen, während über dem anderen Gebiete von vornherein großgeschrieben das erste »Pfui!« prangt, das wir in uns aufzunehmen haben. Dadurch leitet es eben die für jedermann so bedeutungs- und beziehungsvolle Geschichte des ersten Verbotes ein. Der Zwang zur Triebenthaltung und Reinlichkeit wird dadurch zum Ausgangspunkt für die Ekelerlernung überhaupt, für den Ekel kat exochén, der nie wieder ganz verschwinden kann, weder aus dem Erziehungswerk, noch aus dem unserer eigenen Lebensgestaltung. Ein solcher Sachverhalt läßt aber vermuten, hinter dem Normal-Ekel und -Widerstand von uns allen möchten nicht selten Einsichten versteckt bleiben, weil man sie aus diesem Bezirk nicht aufstöbern mag,– ganz ähnlich wie die pathologischen Widerstände bei Neurotikern Einsichten hinter sich verbergen, deren Aufdeckung die Genesung bedingt, indem sie den bewußten Blick auf das Tatsächliche erst freimacht. So könnte es wohl sein, daß gerade auf diesem Gebiet, dem wir (im gewöhnlichen Fall) mit unseren praktischen Erfahrungen und Überwindungen am frühesten zu entwachsen scheinen, unserer Erkenntnis manche späteste Frucht erst noch reift.
Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud, IV. Jahrgang, Heft V, 1915/1916, Hugo Heller & Cie, Leipzig und Wien, S. 249-273.
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Nahezu üblich geworden war es seit einiger Zeit, der Wiener Schule ihre Betonung der Regressionen auf das anale Gebiet als eine Art von Rückständigkeit vorzuhalten,– ungefähr wie wenn, anstatt sachlicher Weitererörterung der Probleme, man sich lieber verbohre in den ausgerechnet unbehaglichsten Familienklatsch. Und doch ist eher Anlaß zu glauben, gerade dieser Punkt, mehr als irgend ein anderer vielleicht, harre erst noch endgültiger Erledigung,– schon allein weil er derjenige ist, auf den sich letztlich alle Reste der Verunglimpfung zurückziehen, die Freuds Hinweis auf den sexuellen Faktor entgegenstand und -steht. Denn wie stark der Widerstand dagegen auch von jeher gewesen ist und insbesondere gegen Freuds »infantile Sexualität«,– immer noch erscheint der Abscheu davor ganz erheblich geringer als der vor dem Analsexuellen speziell. Ja während man im ersten Fall sich über die Zumutung empört, des Kindes Zärtlichkeiten durch das Wort »sexuell« zu besudeln, erweist sich im zweiten Fall dies verfemte Sexuelle seinerseits empörend besudelt durch seine Bezugnahme auf Anales. Wie ja auch die kindlich zärtlichen Auslassungen am elterlichen Körper in jeder Form gerührten Blickes betrachtet zu werden pflegen und sich unbeschränkt gehen lassen dürfen, während über dem anderen Gebiete von vornherein großgeschrieben das erste »Pfui!« prangt, das wir in uns aufzunehmen haben. Dadurch leitet es eben die für jedermann so bedeutungs- und beziehungsvolle Geschichte des ersten Verbotes ein. Der Zwang zur Triebenthaltung und Reinlichkeit wird dadurch zum Ausgangspunkt für die Ekelerlernung überhaupt, für den Ekel kat exochén, der nie wieder ganz verschwinden kann, weder aus dem Erziehungswerk, noch aus dem unserer eigenen Lebensgestaltung. Ein solcher Sachverhalt läßt aber vermuten, hinter dem Normal-Ekel und -Widerstand von uns allen möchten nicht selten Einsichten versteckt bleiben, weil man sie aus diesem Bezirk nicht aufstöbern mag,– ganz ähnlich wie die pathologischen Widerstände bei Neurotikern Einsichten hinter sich verbergen, deren Aufdeckung die Genesung bedingt, indem sie den bewußten Blick auf das Tatsächliche erst freimacht. So könnte es wohl sein, daß gerade auf diesem Gebiet, dem wir (im gewöhnlichen Fall) mit unseren praktischen Erfahrungen und Überwindungen am frühesten zu entwachsen scheinen, unserer Erkenntnis manche späteste Frucht erst noch reift.