Gysi,
das Neue Testament ist ja nicht nur eine "Nächstenliebe-Verkündigung",
sondern kann, wie vieles andere auch, unter verschiedenen Blickwinkeln
gesehen werden.
Erstens wäre da die Möglichkeit, das NT als ein Konglomerat zu sehen,
in dem
.- verifizierte Tatsachenbehauptungen
.- nicht-verifizierte Tatsachenbehauptungen
.- Interpretationen der Tatsachenbehauptungen
.- Visionen und Prophezeiungen
in unterschiedlicher relativer Häufigkeit zusammengeführt sind.
Mit dieser Sichtweise werden auch AgnostikerInnen und AtheistInnen
kein Problem haben. Schlimmstenfalls werden sie mit Gläubigen über
die relativen Anteile der Komponenten uneins sein.
Zweitens könnte das NT als eine Sammlung "erbaulicher" Texte gesehen
werden, die bei den LeserInnen bestimmte Saiten zum Schwingen bringen
und zum Nachdenken über bestimmte Fragen anregen (wobei natürlich die
Gedanken en passant in eine bestimmte Richtung gelenkt werden).
Auch damit dürften AtheistInnen grundsätzlich kein Problem haben.
Wenn diese Anregungen nicht ein bestimmtes Ergebnis des Denkvorganges
aufzwingen, können sie durchaus auch von AtheistInnen positiv gesehen
werden.
Der eingangs zitierte Korintherbrief ist ein schönes Beispiel dafür.
Die von verschiedenen Diskutanten dargestellten Sichtweisen von "Liebe"
decken die ganze Palette von reiner sexueller Triebbefriedigung bis hin
zu voll durchgeistigter "Beziehung zu ..." ab.
Mit Begriffen wie Nächstenliebe, Menschlichkeit, Solidarität, oder ganz
einfach Rücksichtnahme (auf Menschen, Tiere, oder auch unbelebte Sachen)
können sich auch AtheistInnen auseinandersetzen und anfreunden.
Drittens kann das NT als eine Bezugsquelle für "letzte Antworten" gesehen
werden, als Ausgangspunkt für sinnstiftende Aussagen über Gegenwart und
Zukunft.
Die starke Durchdringung der Texte mit Metaphern macht sie sehr flexibel
und auf viele verschiedene Situationen und Fragestellungen anwendbar.
Wenn allerdings AtheistInnen dazu neigen, die Fragen:
"was sind wir, woher kommen wir, und wohin gehen wir heute Abend tanzen"
zu stellen, dann kann das NT darauf nur teilweise Antworten liefern.
Schliesslich kann Viertens das NT auch als eine Propagandaschrift einer
Organisation gesehen werden, die diese Organisation bei den Bestrebungen
unterstützt, Machtpositionen zu erringen, auszubauen oder abzusichern.
Als Propagandaschrift steht die von mir erwähnte Ausgabe des NT auf sehr
hohem Niveau.
Sie erscheint mir sehr gut durchdacht (nona, schliesslich wurde ja auch
mehrere Jahrhunderte daran herumgefeilt) und verlangt von den
LeserInnen als einzige Voraussetzung,
dass sie "in der Gnade des Glaubens stehen" ;-).
AtheistInnen können bei dieser Sichtweise naturgemäss nur wenig mit
dem NT anfangen.
Man kann es sich also aussuchen, wie man das NT sehen will.