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Absaugen

1010er

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1. August 2003
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Absaugen
Um 14 Uhr betrete ich die Praxis, die Sekretärinnen lächeln mich an, sie kennen mich schon. Fast jeden Tag bin ich in der letzten Woche aufgetaucht, um mit Antibiotika-Spritzen und Spülungen die Entzündung meines Weisheitszahnes zu bekämpfen und meinem geschwollenen Gesicht wieder eine normale Form zu geben. Der Geruch in einer Zahnarztpraxis ist umwerfend. Deshalb haben so viele Patienten Probleme mit dem Kreislauf und fallen um. Die Sekretärinnen und Assistentinnen sind guter Dinge, sie haben ja auch nicht Zahnweh. Sie bedeuten mir, im Wartesaal etwas zu warten. Ich bin der einzige Patient zu dieser Zeit. Ich sehe mir ein paar Auto Zeitschriften an, auch ein Reisejournal mit einem Bericht über die Cote D'Azur. Nette Bilder sind da drinnen, sie wecken in mir Erinnerungen. Schon muss ich aufbrechen. Die Assistentin führt mich in den gleichen Raum, in dem ich fast täglich meine Spülungen und Spritzen bekam. Ich lege mich auf meinen bekannten Stuhl und warte, was mit mir passiert. Ich sehe zuerst direkt in die helle Lampe über mir, dann sehe ich nichts mehr. Deshalb setzt mir die Assistentin eine Sonnenbrille auf und hängt mir einen Latz um, damit ich mich nicht ankleckern kann. Ich sehe sie nicht mehr, aber ich höre, wie sie auf einem Keyboard etwas in einen Computer eingibt. Wahrscheinlich meine Daten. Es dauert eine Ewigkeit, bis der Doktor kommt. Ich habe die Augen zugemacht und träume bereits, als er mich begrüßt und mir sofort eine Spritze ansetzt. Gott sie Dank, denke ich mir, ich will nur ja nichts spüren. Dann bin ich wieder allein. Ich träume weiter, bis sich meine Lippe wie eine weiche Extrawurst anfühlt. Jetzt wird’s bald losgehen, denke ich mir. Ein anderer Patient wird gerade fertig sein, die Brille abnehmen und heimgehen. Dann wird der Doktor zu mir kommen. Hoffentlich kann er sich noch konzentrieren. Da ist er schon. "Wie geht's?" "Ist die Lippe schon bamstig?" "Ja". Dann redet er mit der Assistentin ein Fachchinesisch, dass ich glaube, ich bin ein Ausländer. Ich verstehe kein Wort. Ich mache auf jeden Fall einmal den Mund auf. Es geht los. Ich sehe mit der Sonnenbrille genau in die Lampe. Links nehme ich das Gesicht der Assistentin wahr, rechts das des Zahnarztes. Los geht's. Er wird schon wissen, was er tut. Ich habe Vertrauen in ihn. Er hat schon oft in meinem Mund herumgewerkt, und es hat immer geklappt. Heute bin ich aber ängstlicher als sonst. Verdammt, die Assistentin zuckt und hält den Kopf weg. Er werkt fürchterlich im meinem Mund herum mit seinen Instrumenten und den Gummihandschuhen, aber es tut noch nicht weh. Ich schließe auf alle Fälle die Augen. Ich kann sowieso nichts tun. Ich bin ihm total ausgeliefert. Wenn der nicht weiß, was er tut, bin ich verloren. Ich habe Vertrauen. Er kennt sich aus. "Wenn es wehtut, spritzen wir nach", sagt er. "Tut es weh?" "CHHHHHnn", sage ich. Es soll nein heißen. Jetzt kennt er kein Erbarmen mehr. Er arbeitet wie ein Mechaniker. Mit geschlossenen Augen bin ich sowieso in einer anderen Welt. Ich versuche, mir aus dem, was ich verspüre, vorzustellen, was er macht. Das interessiert mich und lenkt mich ab. Ich stelle mir vor, ich kann von oben auf mich draufsehen, ich stelle mir vor, ich bin der Zahnarzt und ziehe mir meinen eigenen Zahn. Doch ersteinmal schneidet er das Zahnfleisch auf, um an den Weisheitszahn heranzukommen. Das spüre ich genau. Er schneidet durch und trifft auf den Zahn. "Absaugen"!. Gott sei Dank saugt die Assistentin gut ab. Sonst würde mir auch noch der Speichel und das Blut im Mund herumrinnen. Jetzt setzt er schon zum Ziehen an. "Ein bisschen rührt er sich, aber noch nicht genug", sagt er. In meiner Finsternis bekomme ich nun doch Angst. Wenn der den Zahn nicht herausbringt und mich mit der Rettung ins Ambulatorium bringt. Ob sie mir dann eine Vollnarkose geben? Was ist, wenn ich einen Kollaps habe? Mir ist schwindlig und schlecht. Das ist der Kreislauf. Das kommt von dem Geruch hier drinnen. Ich hätte sofort wieder gehen sollen! Wenn die mich mit der Rettung wegbringen müssen. Habe ich das Auto versperrt? Ist mit der Wohnung alles in Ordnung? Ich bin noch nie in einem Hubschrauber geflogen. Wie gerne würde ich mit einem Hubschrauber über die Stadt oder über den Wallersee fliegen, vielleicht sogar über die Wallerseegasse, in der ich wohne. Aber nicht so! Nein, das muss ich wirklich nicht haben. In meiner Finsternis rechne ich mit dem Schlimmsten. Das ist wirklich ein Albtraum. Aber ich habe Vertrauen. Der Bursche macht das schon. Die österreichische Ausbildung ist die beste. Er war sicher einer der besten Studenten. Es hingen so viele Urkunden und Auszeichnungen in seiner alten Ordination. Er hat mehr Stühle als viele andere Zahnärzte. Er verlangt mehr Geld als viele andere. Er muss einer der besten sein. Er beleibt zumindest cool. Er wirkt, als ob er wüsste, was zu tun ist. Jetzt zerbohrt oder zerschneidet er den Zahn. Ich habe den Eindruck, als ob er ihn total wegfräste. Der Albtraum gerät in eine Zeitlupe. Mein ganzer Kopf dröhnt. Der Bohrer macht mindestens 15000 Touren. Wie man das nur aushalten kann. Gut, dass ich nicht hinsehen muss. Trotzdem stelle ich mir das Schauspiel von allen Seiten vor. Es geht wild zu in meinem Mund. Der Bursche muss konzentriert sein. Was ist das für ein Job? Jeden Tag in den Mäulern der Patienten kaputte Zähne reparieren. Gut, dass ich am Zahn selbst nichts spüre! Aber die Lippe und den Gaumen hat er schon ein paar Mal erwischt. Abgerutscht ist er auch schon mehrmals. Er kann den Zahn nicht fassen. Darum fräst er weiter wie ein Irrer. Jetzt ist mir alles egal. Natürlich überlege ich mir noch immer, was er vorhat, will er den Zahn in Teile zerlegen, die er dann einzeln herausholt? Was weiß ich! Ich bin doch nicht der Zahnarzt. Der hat eine gediegene österreichische Ausbildung, viel Erfahrung und schöne Urkunden, der macht das. Mir ist jetzt alles egal. Ich warte einfach bis alles vorbei ist. Als ob ich mit geschlossenen Augen einen Salto vom 3 Meter Brett machen würde. Abspringen und warten, bis ich auf das Wasser auftreffe. Ein Blindflug sozusagen. Irgendwann ist alles vorbei. Wie Recht ich doch habe. Der Zahn ist endlich gezogen. Ich habe es gar nicht mehr bemerkt. Ich muss noch eine Stunde auf dem Sessel liegen bleiben. Die Assistentin tippt wieder etwas in den Computer. Es geht mir den Umständen entsprechend gut bis die Nacht hereinbricht. Dann lässt die Spritze nach und der Schmerz meldet sich an, die ganze Nacht, und die ist lang.
 
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