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Verpasste Begegnung im Straßencafé

Krapp

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8. Juli 2004
Beiträge
3
Gestern saß ich in einem Straßencafé und las Zeitung. Ich benötige dazu eine Lesebrille, denn ich bin weitsichtig, eine Eigenschaft, die in einem anderen Zusammenhang krass an mir vorbeigeht. Der Stammplatz meiner Lesebrille liegt unmittelbar über den Nasenflügeln, so dass ich nach unten blickend die Zeitung lesen und über den Brillenrand die Welt sehen kann.

Als ich die Zeitung umblätterte dehnte sich mein Blick über sie hinaus in die dioptriefreie Zone bis hin zur anderen Straßenseite, und zu meiner Überraschung trat genau in diesem Augenblick eine Frau, mit der ich in jungen Jahren eine Weile verheiratet war, aus der Tür des dem Café gegenüberliegenden Hauses. Ich ließ die Zeitung sinken und sah zu, wie die Frau im Gehen hastig ihre Handtasche öffnete, ein Zigarettenpäckchen herausnahm und dann stehen blieb, um sich eine Zigarette anzustecken. Etwas in mir wartete darauf, dass ich ihren Namen rief oder aufstand und die Strasse überquerte, um sie zu bitten, mit mir eine Tasse Kaffee zu trinken. Gleichzeitig spürte ich, dass ich das nicht wollte, dass mir jedes Verlangen fehlte, noch einmal zurückzublicken hinter die Barrikaden, die wir wohl beide aufgebaut hatten, um dem Schmerz des Erinnerns zu entgehen. Die Frau stand noch immer am gleichen Ort, zog an ihrer Zigarette und blickte unschlüssig um sich. Dann stieß sie den Rauch der Zigarette aus, als wolle sie damit etwas vertreiben, so wie man die Luft ausbläst nach einem Ärger oder beim Gewahrwerden einer unabänderlichen Situation. Sanfte Panik ergriff mich. Ich wusste, dass sich in dem Haus, dass sie eben verlassen hatte, vor allem Arztpraxen befinden, und in Gedanken malte ich mir aus, wie ihr einer der weissgekittelten Männer dort drin gesagt hätte, sie würde an einer unheilbaren Krankheit leiden.

Reglos starrte ich auf die andere Straßenseite, unfähig mich selbst aus meinem Verharren zu erlösen. Gesprächsfetzen und Geräusche drangen wie von weit her an mein Ohr, die Welt um mich herum blieb in Bewegung, die vorbeiziehenden Passanten kamen mir vor wie eine sinnlos drängelnde bunte wimmelnde Parade, wo ich es doch viel angemessener gehalten hätte, dass die Welt für einen Augenblick zum Stehbild eingefroren wäre und die Zeit mit ihr, so dass ich mich vielleicht hätte erheben können, um leichten Schrittes die Strasse zu überqueren. In diesem Augenblick zog ein Pulk japanischer Touristen an den Tischen vorbei und versperrte mir für eine Weile den Blick, und als ich meine Augen wieder auf die Frau gegenüber richten wollte, war sie verschwunden.

Ich mochte jetzt nicht mehr Zeitung lesen. Ich zahlte, stand auf und überquerte die Strasse. Erst als ich dort ankam, wo die Frau vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte, merkte ich, dass ich in die falsche Richtung gegangen war. Ich blickte zurück auf das Café und sah jetzt die Frau dort sitzen, nur wenige Meter entfernt von dem Tisch, an dem ich eben noch gesessen hatte. Mit einer letzten feigen Anstrengung machte ich beim neuerlichen Überqueren der Straße einen großen Bogen um das Café.

Auf dem Weg nach Hause dachte ich daran, wie seltsam doch die Erinnerung mit uns umspringt, wenn wir an einen Menschen zurückdenken, mit dem wir für eine Zeitlang unser Leben geteilt haben. In der ersten Zeit der Trennung scheint es, dass der Körper das längste Gedächtnis hat. Die Gestalt, die Haut, der Geruch, die Art wie sich ein einem vertrauter Mensch anfühlt, scheint für eine lange Zeit eingeschlossen im eigenen Körper. Dann, allmählich verschwindet die körperliche Vertrautheit, die Signale werden schwächer, weil von anderen, neuen überlagert, und versanden schließlich, verschwinden im Meer aller gewesenen Umarmungen. Was in der Erinnerung bleibt sind bloße Gesten, das Zurückwerfen der Haare, ein verletzter Augenaufschlag, der Griff zum Zigarettenpäckchen, wenn das Telefon klingelt. Hin und wieder daran zu denken, erscheint wie die Vorarbeit des endgültigen Vergessens.

Ich schloss die Tür zum Haus auf, an das ich mich noch immer nicht gewöhnt habe, obwohl ich jetzt schon ein Jahr darin wohne. Jetzt war es mir noch fremder als zuvor. Wie taub öffnete ich die Wohnungstür, aber ich war froh, von meinem Erlebnis berichten zu können. Zehn Jahre ist das her und fünf, seit ich sie nicht mehr gesehen habe, hörte ich mich zu der Frau sagen, die jetzt Fuß gefasst hat in meinem Leben. Als müsste ich mich selbst wieder einordnen in die Zeit.
 
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AW: Verpasste Begegnung im Straßencafé

Warum müssen die Leute in solchen Szenen eigentlich immer rauchen? :reden:

Früher war das mal in. Heute nicht mehr.
 
AW: Verpasste Begegnung im Straßencafé

eine wunderschöne geschichte.
mit oder ohne zigarette.
und zeitlos......

:zauberer2
 
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