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Philosophie des Vergessens nach Nietzsche

Heide

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Registriert
18. September 2005
Beiträge
103
"Kultur ist Gedächtnis", heißt es bei Jan Assmann. Wenn Kultur "als überlieferte" gegeben und "als weiterzuüberliefernde" aufgegeben ist, so lässt sich daraus der Schluss ziehen: Überlieferung ist Gedächtnis und prima facie nicht im geringsten als Vergessen zu verstehen. Kultur und Überlieferung könnten so gesehen als Inbegriffe menschlicher Widersetzlichkeit gegen das Vergessen gelten, das von der Zeit, den Mängeln unseres Gedächtnisses und natürlichen oder gewalttätigen Zerstörungen seiner Leistungen bewirkt wird. In dieser Widersetzlichkeit liegt, so wird immer wieder behauptet, ungeachtet aller Mängel des Gedächtnisses und Zerstörungen, durch die sich die Menschen selber am Kapital ihrer Überlieferung vergehen, deren eigentlicher Sinn. Zwar gerät faktisch vieles in Vergessenheit; doch kann Vergessen so gesehen nicht im Sinn der Überlieferung liegen. Vergessen würde ihr demzufolge stets nur als etwas ihrem eigentlichen Sinn Fremdes widerfahren, an dem sie selbst keinen Anteil hätte. Wurde die Überlieferung nicht seit je her von Erfahrungen des Verlusts und der Veränderung, des Entzugs und der Zerstörung, von der Negativität der Zeit und menschlicher Destruktivität her dazu herausgefordert, sich dem Vergessen zu widersetzen und nur von traumatischen Überforderungen radikal daran gehindert?
Oder gehört das Vergessen konstitutiv zur menschlichen Geschichtlichkeit? Gehören Gedächtnis und Vergessen ursprünglich zusammen? Muss man vergessen (haben), um überhaupt erinnern zu können? Setzt das Erinnern ein vorgängiges Vergessen voraus, das sich niemals völlig aufheben lassen wird?
Das Seminar wird auf Versuche einer positiven Auffassung des Vergessens eingehen. Und zwar ausgehend von Nietzsches "genealogischer" Auffassung der Geschichte und speziell mit Blick auf den jüngsten Versuch Ricœurs, das Vergessen für das Projekt einer Versöhnung von Gedächtnis und Geschichte zu mobilisieren.

B. Liebsch

Wenn es eine Gedächtniskunst gibt, sollte es dann nicht auch eine Kunst des Vergessens geben? Wieviel Vergessen braucht oder verträgt eine Kultur, und wann überschreitet die Vergeßlichkeit die Grenzen der Moral? Auf solche Fragen kann besser antworten, wer sich mit der Kulturgeschichte des Vergessens vertraut gemacht hat. Diese Geschichte legt Harald Weinrich hier vor - ebenso gelehrt wie stilistisch brillant geschrieben, ebenso unterhaltend wie zum Nachdenken einladend.
H. Weinrich, Lethe

Etwas zu vergessen, das passiert jedem, dem einen häufiger, dem anderen seltener.
Etwas zu vergessen, heißt: sich zu spät an etwas erinnern, sich gar nciht an etwas erinnern.
Es hat einen moralischen Aspekt. Jemand, der ständig Verabredungen, Versprechen, Zusagen vergisst, gilt als unzuverlässig.
Manchmal hat man das Gefühl, sich nur unwichtiges zu merken, wichtiges aber einfach nicht behalten zu können.

Die Frage, die sich aus den beiden Zitaten oben ergibt: Gibt es eine Brisanz des vergessens im positiven Sinn?

Außerdem eine grundsätzliche Frage: was heißt das eigentlich: etwas vergessen?

Die Beziehung zu Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
Lese ich gerade :)
 
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Gibt es eine Brisanz des vergessens im positiven Sinn?

Deine Frage habe ich vergeben und vergessen :)

Scherz beiseite

das Geschehene wird früher oder später vergessen.
spätestens, wenn die Augenzeugen von damals tot sind,
geht die Erinnerung an das Hörensagen über.
das Geschehene ist dann jedoch bereits ein klein wenig verarbeitet
und wird so langfristig auf einen metaphysischen Standpunkt erhoben

Zeitdokumente von damals sind zwar authentisch,
aber um das Geschehene neutral bewerten zu können,
muss das Geschehene rekonstruiert werden.

im Vergleich dieser Hermeneutik mit der Wirkung der historischen Quellen auf uns heute
fällt dann auf,
was zwischenzeitlich alles vergessen wurde
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich denke, dass das Vergessen - im Bereich der eigenen Lebensgeschichte - etwas sehr sehr Ökonomisches und Selbsterhaltendes ist.

I vergieß, was mi kränkte, damit i mi weiter so sehen kaun, wie i mi sechen wüü.


Und zu einer ausführlichen Diskussion , lieber scilla, über das Vergessen als historische Dimension, mag ich mich jetzt nicht äußern. Denn da kommen dann sicher andere Aspekte zum Tragen. Zum Beispiel der, dass auch Geschichtsschreiber gar nie objektiv sein können. Und dass das "Wissen" immer nur Teilaspekte des Seins beinhaltet. Und dass die geschriebene Geschichte immer die Geschichte derer ist, die macht haben oder deren Apologeten. Du hast Recht, wenn Du auf den Vergleich von zeitgleichen Quellen hinweist. Aber: was vergessen wurde, bleibt im Dunkel.


Marianne
 
Wirklichkeit/Wahrheit ablegen

Hi!

Was ist der Prozess des Vergessens?

Der Begriff taucht häufig im Gebrauch von:Ich will dich/etwas
vergessen!
auf.Somit wäre es ein Prozess des Ablegens....man möchte
einen bestimmten Teil seiner Wirklichkeit/Wahrheit ablegen.
Oftmals ist das eine Methode der bewussten Selbsttäuschung...und
gelingt aus dem Bewusstsein heraus nicht.

Denn etwas ins Unbewusstsein zu setzen beschreibt schließlich
ebenfalls = zu vergessen(und das kann nicht bewusst gewollt umgesetzt werden).

Die positive Brisanz in diesem Prozess liegt in dem unbewussten Vergessen...der
das "wie" etwas geschah in Form von verspürtem Schmerz vergehen lässt.
Dies dient dem Selbstschutz.
Würdest du alle bisherigen Schmerzgefühle sowohl psychischer Art als auch
physischer Art nachempfinden (also nicht vergessen) können,
würde das die Dosis Letalis für dein Nervensystem bedeuten.
Sprich du würdest einen Hirntod unglaublicher Art erleiden....
das Vergessen verhindert dies!

Das war jetzt eine kurze Antwort auf deine beiden Fragen....
das Thema ist komplexer aufgebaut,...so werde ich es auch weiter
ausführen soweit es erwünscht ist.

Mfg SBS
 
Oder gehört das Vergessen konstitutiv zur menschlichen Geschichtlichkeit? Gehören Gedächtnis und Vergessen ursprünglich zusammen? Muss man vergessen (haben), um überhaupt erinnern zu können? Setzt das Erinnern ein vorgängiges Vergessen voraus, das sich niemals völlig aufheben lassen wird?

Heute werde ich mal zitieren, nämlich aus "Die Gesellschaft der Gesellschaft" von Niklas Luhmann:
Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt also im Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen

Hierbei sind sowohl individuelle Gedächntisse wie auch gesellschaftliches Gedächtnis gemeint,
Wie wichtig das Vergessen ist, merkt man schon daran, dass es das ist, was am meisten geschieht: Es wird vergessen, ständig wird alles vergessen. Was ich heute in der S-Bahn gesehen habe, habe ich schon alles vergessen.
Einen Geburtstag zu vergessen ist schon ein Sonderfall.
Außerdem ist die Formulierung "Ich habe deinen Geburtstag vergessen" ungenau. Man hat den Geburtstag natürlich nicht vergessen (wie könnte man sonst merken, dass man ihn vergessen hat ;) ); sondern man hat ihn nur nicht zur richtigen Zeit "aktualisiert".
Vergessen, das heißt Reduzierung von Komplexität. Wahrnehmen und Vergessen sind eng aneinander gekoppelt. Wahrnehmen heißt, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, um überhaupt wahrnehmen zu können!
Wer jeden einzelnen Baum wahrnimmt, wird den Wald nicht sehen. Das Schema "Wald" hilft unserer Wahrnehmung und wurde imprägniert durch unser Gedächtnis. Wald ist eine Art Identität, durch wiederholtes Wahrnehmen zu einem Schema kondensiert und damit erst zur Abstraktion (Übertragung auf andere Wälder, Schilderwald zum Beipiel) freigegeben. Opfer dieser Imprägnierung sind unendlich viele vergessene Bäume.

Es gibt Menschen mit Wahrnehmungstörungen, Autisten zum Beipiel, die mit erstaunlichen Gedächtnisleitungen aufwarten, so genannte "savant idiots". Sie sind vielleicht ein lebendiges Beipiel dafür, was eine gestörte "Vergessensleistung" für Auswirkungen hat.
Vielleicht berührt auch die Fragestellung in https://www.denkforum.at/threads/2591&highlight=Evolution
diesen Punkt. Ein perfektes Gehirn ist kein lebensfähiges und kein evolutionsfähiges Gehirn.

Vergessen wird meist als tragisch wahrgenommen. Sei es als Krankheit (Alzheimer), als Schnelllebigkeit der Zeit (Oberflächlichkeit), als nostalgische Verklärung (schlechtes wird vergessen, Gutes überhöht).
Vielleicht brauchen wir keine Kultur des Vergessens. Sondern die Einsicht, dass Kultur auf Vergessen aufbaut - und daher nicht ständig als "tragisches Phänomen" erinnert zu werden braucht...
 
Robin schrieb:
Vergessen wird meist als tragisch wahrgenommen. Sei es als Krankheit (Alzheimer), als Schnelllebigkeit der Zeit (Oberflächlichkeit), als nostalgische Verklärung (schlechtes wird vergessen, Gutes überhöht).
Vielleicht brauchen wir keine Kultur des Vergessens. Sondern die Einsicht, dass Kultur auf Vergessen aufbaut - und daher nicht ständig als "tragisches Phänomen" erinnert zu werden braucht...

Vielleicht vergisst man ja auch einfach, dass es manchmal gut ist, etwas vergessen zu haben?

Den geschichtlichen Aspekt des Vergessens möchte ich im Moment eigentlich ausklammern, da hat Vergessen eine ganz andere Dimension als im persönlichen Bereich.

Ich denke auch, dass Vergessen in gewisser Weise lebensnotwendig ist. Trüge man immer alle Erinnerungen, insbesondere alle negativen, mit sich herum, wie könnte man dann noch auch nur eine Stunde seines Lebens glücklich sein?

Im zwischenmenschlichen Miteinander ist das "vergeben und vergessen" essentiell. Das Schlussstrich ziehen können gehört hier her.

Offensichtlich gibt es aber doch auch verschiedene Ebenen des Vergessens. Manches ist irgendwo in den Tiefen der Hirnwindungen verschwunden und kann nicht mehr bewusst abgerufen werden, vielleicht ist es der Hypnose zugänglich oder ein besonderes Erlebnis bringt es wieder an den Tag.
Anderes ist eher bewusst ausgeblendet.

Ich schau mir mal am Wochenende den Nietzsche an, wenn ich die Zeit finde. Den Text gibt's übrigens im Projekt Gutenberg
 
Heide schrieb:
Ich denke auch, dass Vergessen in gewisser Weise lebensnotwendig ist. Trüge man immer alle Erinnerungen, insbesondere alle negativen, mit sich herum, wie könnte man dann noch auch nur eine Stunde seines Lebens glücklich sein?

Genau das, Heide, habe ich bereits oben geschrieben. Nur habe ich das nicht so relativ hedonistisch auf " glücklich sein" reduziert, sondern erweitert auf Selbstwertverlust bei ständiger Präsenz dessen, was wir eben " vergessen".

Marianne


Da hat allerdings nicht Luhmann, sondern nur ich gesagt. Bin neugierig, was Du bei Nietzsche zu diesem Gedanken findest.
 
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"Kultur ist Gedächtnis", heißt es bei Jan Assmann. Wenn Kultur "als überlieferte" gegeben und "als weiterzuüberliefernde" aufgegeben ist, so lässt sich daraus der Schluss ziehen: Überlieferung ist Gedächtnis und prima facie nicht im geringsten als Vergessen zu verstehen. Kultur und Überlieferung könnten so gesehen als Inbegriffe menschlicher Widersetzlichkeit gegen das Vergessen gelten, das von der Zeit, den Mängeln unseres Gedächtnisses und natürlichen oder gewalttätigen Zerstörungen seiner Leistungen bewirkt wird. In dieser Widersetzlichkeit liegt, so wird immer wieder behauptet, ungeachtet aller Mängel des Gedächtnisses und Zerstörungen, durch die sich die Menschen selber am Kapital ihrer Überlieferung vergehen, deren eigentlicher Sinn. Zwar gerät faktisch vieles in Vergessenheit; doch kann Vergessen so gesehen nicht im Sinn der Überlieferung liegen. Vergessen würde ihr demzufolge stets nur als etwas ihrem eigentlichen Sinn Fremdes widerfahren, an dem sie selbst keinen Anteil hätte. Wurde die Überlieferung nicht seit je her von Erfahrungen des Verlusts und der Veränderung, des Entzugs und der Zerstörung, von der Negativität der Zeit und menschlicher Destruktivität her dazu herausgefordert, sich dem Vergessen zu widersetzen und nur von traumatischen Überforderungen radikal daran gehindert?
Oder gehört das Vergessen konstitutiv zur menschlichen Geschichtlichkeit? Gehören Gedächtnis und Vergessen ursprünglich zusammen? Muss man vergessen (haben), um überhaupt erinnern zu können? Setzt das Erinnern ein vorgängiges Vergessen voraus, das sich niemals völlig aufheben lassen wird?
Das Seminar wird auf Versuche einer positiven Auffassung des Vergessens eingehen. Und zwar ausgehend von Nietzsches "genealogischer" Auffassung der Geschichte und speziell mit Blick auf den jüngsten Versuch Ricœurs, das Vergessen für das Projekt einer Versöhnung von Gedächtnis und Geschichte zu mobilisieren.

B. Liebsch

Wenn es eine Gedächtniskunst gibt, sollte es dann nicht auch eine Kunst des Vergessens geben? Wieviel Vergessen braucht oder verträgt eine Kultur, und wann überschreitet die Vergeßlichkeit die Grenzen der Moral? Auf solche Fragen kann besser antworten, wer sich mit der Kulturgeschichte des Vergessens vertraut gemacht hat. Diese Geschichte legt Harald Weinrich hier vor - ebenso gelehrt wie stilistisch brillant geschrieben, ebenso unterhaltend wie zum Nachdenken einladend.
H. Weinrich, Lethe

Etwas zu vergessen, das passiert jedem, dem einen häufiger, dem anderen seltener.
Etwas zu vergessen, heißt: sich zu spät an etwas erinnern, sich gar nciht an etwas erinnern.
Es hat einen moralischen Aspekt. Jemand, der ständig Verabredungen, Versprechen, Zusagen vergisst, gilt als unzuverlässig.
Manchmal hat man das Gefühl, sich nur unwichtiges zu merken, wichtiges aber einfach nicht behalten zu können.

Die Frage, die sich aus den beiden Zitaten oben ergibt: Gibt es eine Brisanz des vergessens im positiven Sinn?

Außerdem eine grundsätzliche Frage: was heißt das eigentlich: etwas vergessen?

Die Beziehung zu Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.
Lese ich gerade :)
Besser ein Ende ohne Anfang,als ihm zu spotten:brav:
 
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