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kleines Tagebuch

Filopher

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Registriert
2. Mai 2003
Beiträge
11
Achtung: Folgende Zeilen sind frei erfunden, alle Personen im Text sind fiktiv und auch die Hauptperson existiert nicht.

Wer Interesse an der Fortsetzung der Geschichte hat, kann sie in meinem kleinen Privatforum unter

http://www.der-elfenbeinturm.de

nachlesen (ist ein wenig zu lang um alles hier rein zu stellen).
 
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1. Eintrag : Akt I - Schnee und Masken 21.11.2002

Mein erster Akt in meinem neuen Leben soll heute beginnen. Möge dieses Tagebuch gelesen werden, weshalb auch immer.

Es ist kein besonderer Tag. Naja, gestern hat es das erste Mal in diesem Herbst geschneit, ein Tief aus Russland lässt die Tage einsamer wirken als sie mir ohnehin schon vorkommen. Der Schnee lächelte mich heute Nacht in meinem Bett an und mochte sich hinter der Scheibe meines Fensters wundern, weshalb er bei mir niemals Licht sieht, weshalb ich nicht einmal eine Lampe habe.

Vielleicht war das der Auslöser, mein Katalysator um mir ein paar Gedanken über meine Zukunft zu machen. Die wirklichen Gründe stecken aber viel tiefer, irgendwo in den Wurzeln meiner Seele begraben und dennoch täglich spürbar. Der Computer ist mein wahres Fenster zur Welt, das Internet mein täglicher Spaziergang und Treffpunkt mit anderen Menschen.

Ich rede sehr viel mit meinen Mitmenschen, denn in meinem Herzen bin ich eine sehr kontaktfreudige Person. In meinem Lieblingschat wurde mir sogar ein eigener Privatchannel eingerichtet - Fionas Strandhaus. Dort treffen sich Personen mit mir, die das Bedürfnis verspüren mit einem fremdem Individuum über ihre Probleme zu reden und sich völlig anonym und unverbindlich ein paar Ansichten über ihre Handlungen und Schwierigkeiten geben zu lassen. Doch niemand dort ahnt auch nur annähernd, welche Probleme ich mit meinem eigenen Leben habe. ... ironischerweise sind meine Mitchatter der Meinung, das kleine Mädchen am anderen Ende der Leitung hätte eine Antwort auf alle Beziehungsfragen, dabei habe ich selber nicht mal eine einzige wirkliche Beziehung zu einem realen Menschen.

Ich habe bisher jedes CT (Chatter Treffen) vermieden, habe mich nie überwinden können, zu einer Verabredung zu kommen oder auch nur mit einem anderen Menschen zu telefonieren. Die wenigsten Leute verstehen das, können nachempfinden, was es mich an Überwindung kostet, wenigstens abends, kurz bevor die Geschäfte schließen, noch schnell durch die Regale zu huschen und möglichst unerkannt mein Abendessen zu kaufen. Ich schaffe es nicht jeden Abend, ... und manchmal hungere ich tagelang und weine mich in den Schlaf.

Nachtrag:
Meinen guten Vorsätzen zum Trotz werde ich heute nicht mehr rausgehen. Es ist schon spät, die meisten Geschäfte haben bereits geschlossen und ich wüsste auch nicht, was ich sonst machen könnte. Großstädte sind gewaltig, aber man verliert sich auch schnell in der Masse, wird zu einem unwichtigen Glied in der Kette, die die Straße überquert oder ein unwillkommender Anwachs der Schlange vor der ohnehin schon überfüllten Weihnachtskasse. ... da bleibe ich lieber im Bett ...
 
2. Eintrag: nackt sein - warum ich mich nicht selber anschauen kann, 22.11.2002

Ich bin nicht hässlich, zumindest wird mir das gesagt, aber ich weiß auch, dass Geschmäcker zu verschieden sind um sie zu vergleichen. Ich bin 1,61m klein, wiege 46kg und habe eine sehr weibliche Figur. Wenn ich durch die Stadt gehe, ziehe ich die Blicke so manchen Mannes auf mich. Ich spüre das. Seine durchdringende Musterung, seine Abwertung auf mein Geschlecht, seine gierige Triebhaftigkeit. Ich verlasse das Haus nicht mehr ohne dicken Mantel, Handschuhe und Mütze. Am liebsten würde ich jeden Quadratzentimeter meiner Haut abdecken, ich will die Farbe nicht sehen, möchte meine Haut nicht spüren. Ich empfinde Schmerzen, wenn ich mich nackt im Badezimmerspiegel betrachte.

Das war nicht immer so, aber die Anzeichen waren schon in meiner Jugend zu sehen. Ich gehörte zu den Mädchen, die lieber in ihrem Zimmer saßen und Bilder zeichneten, statt draußen vor die Sonne zu treten und mit den Nachbarskindern zu spielen. Meine Eltern ließen mir meinen Willen und waren froh darüber, dass ich ihnen keinen Ärger machte. Ich kam nie zu spät von einer Verabredung nach Hause, ich schlich mich niemals nachts raus und ich war nie schlecht in der Schule. Ich war ein braves Kind, so konnten meine Eltern ihr Leben leben und ich lebte meins. Zum Essen traf man sich dann wieder in der Stube und wechselte ein paar belanglose Worte.

Viele meiner Freunde und Freundinnen konnten nicht verstehen, dass ich kaum Interesse zeigte mit ihnen durch Berlin zu ziehen, shoppen zu gehen oder mich mit ihnen einfach in einen Club zu setzen. Sie hatten wohl das Gefühl, ich würde mich nicht um sie kümmern, mich nicht für sie interessieren - was nicht stimmte - aber ich konnte ihnen ihre Haltung auch nicht verübeln. ... Etwas in meinem Innern hielt mich davon ab, schrie mich jedesmal an, wenn ich vor einer Wahl stand. „Bleib in deinem Zimmer!!“

So wurden es im Laufe der Jahre immer weniger Menschen, mit denen ich noch regelmäßigen Kontakt pflegte. Als die Schule schließlich vorbei war und ich es geschafft hatte, sogar meinen eigenen Abiball zu versäumen, zog ich dann aus meiner Heimatstadt hinaus zu meiner Universität. Ich dachte, wenn ich in eine neue Stadt ziehe, würde sich vielleicht alles ändern. Ich würde gezwungenermaßen in der Uni neue Leute kennenlernen, müsste nicht mit meinen Eltern in einem Haus wohnen und würde ein neues Zuhause finden.

Die Dinge änderten sich tatsächlich, aber sie wurden nicht besser. Nach den ersten irritierenden Uniwochen fing ich an, mehr und mehr meiner Vorlesungen zu versäumen. Mein Lebensrhythmus verschob sich ohne mein Zutun. Ich ging morgens um sechs Uhr schlafen und stand abends gegen sechs Uhr wieder auf. Ich schaffte einen Internetanschluss für meinen Computer an und verbrachte die meiste Zeit meines "Tages" dort. Ich begann mich gehen zu lassen, schminkte mich nicht mehr wenn ich rausging, kämte nicht mehr meine Haare und mied es in einen Spiegel zu blicken. Ich bin immer noch ein sehr reinlicher Mensch, aber ich habe keinen Spaß mehr beim duschen und versuche meine Körperpflege so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. ... und irgendwann schraubte ich die Birnen aus den Lampen, weil ich mich nicht mehr sehen wollte.

Heute ist Freitag - blieb den ganzen Tag in meiner Wohnung.
 
3. Eintrag: Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung, 23.11.2002

Ich wünschte, ich wäre heute niemals aufgestanden, dabei fing der Tag wirklich vielversprechend an. Ich habe diese Nacht kaum geschlafen, aber das bin ich gewohnt. Wenn ich wenig schlafe, dann vergesse ich manchmal meine Ängste. Ich vergesse sie, weil ich zu müde bin um sie in ihrer ganzen Intensität zu spüren. Schlaflosigkeit ist ein viel besseres Betäubungsmittel als Schlaf.

Ich verbrachte heute fast den ganzen Tag in meinem Bett und hörte meine Musik. „Fast den ganzen Tag“ ist für für mich schon etwas außergewöhnliches. Gegen Abend, als die Sonne langsam Berlin verließ, erinnerte ich mich an meinen ersten Tagebucheintrag und packte meinen Rucksack.

Ich weiß nicht wieso, aber alles fiel mir so leicht, ich sang unter der Dusche, ich sang während ich mich anzog und ich sang sogar noch, als ich diese schwarze Wohnungstür öffnete. Diese Wohnungstür, die ich manchmal tagelang anstarrte, ohne dass sie sich auch nur einen Millimeter bewegte, ging plötzlich durch eine einfache Handbewegung auf und zeigte mir die Außenwelt. Ich war wie verzaubert.

Als ich mein Zimmer verließ, bemerkte ich, dass mein Nebenmieter auszieht. Er ist ein Mann mittleren Alters und stand in seinem Wohnungseingang mit einem Paket in der Hand. Er schaute mich irritiert an. Ich erschrak, stoppte meinen Gesang, beachtete ihn nicht weiter und tat so, als wäre ich nur zu Besuch in der Wohnung gewesen. Mein Nebenmieter hatte bereits in diesem Haus gewohnt, noch bevor ich eingezogen war, aber ich glaube, er hat mich vor dieser Begegnung noch nie persönlich gesehen. Ich habe ihn schon häufiger beobachtet, schaute durch meinen Spion, während er das Treppenhaus putze und dabei auch meinen Bereich mitsäuberte. Ich habe ihm niemals dafür gedankt oder ein Wort mit ihm gewechselt. Das tut mir jetzt weh.

Ich ging nach draußen. Mein Herz schlug wild, ich spürte es bis in meinen Hals. Es war schon fast dunkel, das machte mir den Spaziergang leichter. Ich schlenderte ungefähr eine halbe Stunde durch ein paar menschenleere Seitenstraßen und atmete die frische, kalte Luft ein, ... mehr nicht ... nur atmen, das genügte mir heute.

Doch dann bog diese Gruppe von jungen Männern in die Straße. Ich senkte meinen Kopf, zog die Kapuze vor und wollte sie nicht ansehen, wollte sie nur so schnell wie möglich hinter mir lassen. Kurz vor mir flüsterte einer von ihnen seinem Partner ein paar Worte zu. Sie wurden langsamer und schauten mich an. Ich spürte ihre Blicke, Angst stieg in mir auf und ich beschleunigte mein Tempo. Als der Junge vor mir nicht zur Seite weichen wollte, ich aber auch nicht nach vorne sah, stieß ich mit ihm zusammen und prallte wieder zurück, während er, zwei Köpfe größer und bestimmt doppelt so schwer, sich überhaupt nicht rührte. ... Und dann überkam es mich. Eine innere Angst, ein Druck, der plötzlich unterträglich wurde. Ich wusste nicht was ich tun sollte, schwankte ein wenig. Ich sah trotzdem nich nach oben ... konnte es einfach nicht ... sondern fing an zu rennen. Es war eine Kurzschlussreaktion, ich wollte nur weg. Ich stieß mich seitwärts an ihm vorbei und lief die Straße entlang. Die ersten Tränen rannen meine Wangen hinunter, während einer der Jungen mir noch etwas hinterher rief. Ich verstand ihn nicht, ollte ihn auch gar nicht verstehen. ... weg, nur weg ...

Irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, schaffte ich es wieder zurück in meine Wohnung. Ich verschloss die Tür von innen, meine Hände zitterten und ich fiel auf das Bett ... und weinte.

Was ist nur mit mir los? Das kann doch nicht mehr normal sein.
 
4. Eintrag: Allein im Bett, 24.11.2002

...möchte heute nicht viel schreiben ... mir geht es nicht gut, lag den ganzen Tag auf meinem Bett und hab die Decke angesehen, weiß nicht, was ich ändern könnte ... vielleicht einfach weiter die Decke anschauen, bis ich ...

... einschlafe.

Habe gestern durch den Vorfall vergessen was zum Essen zu kaufen ... mein Magen knurrt, habe Hunger, Kopfschmerzen.

sorry, bin nicht zum Schreiben aufgelegt ... möchte nur vergessen.

Morgen gibt es mehr, ... wenn ich kann. Das Leben ist so gemein.

Wieso ich?

Wieso bin ich so?

Und wieso sind die Dinge, die ich nicht kann, für andere so selbstverständlich?

Ich hätte gerne jemanden hier ... zum festhalten und trösten. Aber ich weiß genau, dass niemand kommen wird.

Einsame Nacht.
 
5. Eintrag: warum es mir schlecht geht, 25.11.2002

... hab eben den Eintrag gelöscht ... tut mir leid. War eine Kurzschlussaktion, ich sollte ihn stehen lassen. Es ist nur ... ich werde damit nicht fertig. Eigentlich will ich ja, dass es besser wird und trotzdem schreibe ich nur negative Sachen auf.

---
Von heute Nachmittag:

Wenn ich dieses Tagebuch öffne und einen Beitrag beginne, habe ich jeden Tag das Bedürfnis meine Einsamkeit niederzuschreiben. Doch jedesmal stelle ich fest, dass man Einsamkeit nicht in Worte fassen kann. Ich kann nicht mitteilen, was ich habe, wie dieser Schmerz aussieht, ich kann nur mitteilen, was ich nicht habe, warum der Schmerz exisitiert.

Ich habe keinen Freund. Da ist niemand, der mich küsst, meinen Körper berührt, mich verwöhnt oder mir Liebe gibt, wenn ich es brauche.

Ich habe keine Freunde. Niemand, der mir zuhört, mich in den Arm nimmt, mir mal ein paar schöne Worte sagt, der für mich da ist.

Und das schlimmste daran ist: ich versinke in Selbstmitleid und in die Unfähigkeit etwas an meiner Situation zu verändern. Der Schmerz der Bewegung ist noch größer als der Schmerz des Zustandes. Mein Leben ist von Schmerz bestimmt und ich kann nicht versuchen ihm zu entkommen, ich kann nur versuchen ihn abzumildern. Wenn ich still in meinem Zimmer sitze, ist der Schmerz groß, manchmal so heftig, dass ich nicht weiß, was ich dagegen machen kann, ... aber ich kann ihn überleben. Das kann ich
nicht, wenn ich vor diese verdammte schwarze Tür trete.

...

Ich hasse meine Wohnung , ... ich hasse ihre Form ... ihre Farben ... ihre Ecken und Winkel ... ihre Möbel. ... und ich hasse mich

für diese Schmerzen, meinen Körper für seine Schwäche, meinen Geist für diese Gedanken ... ich hasse mich

und ich will nichts davon sehen.

dunkel

nacht
 
Das kleine Tagebuch, es sagt mir nicht sehr viel,
denn was es sagen könnte, ist leider doch kein Spiel,
das kleine Tagebuch, es bleibt in sich sehr still,
denn es gibt nur wenige, die raffen, was ich will.
 
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