3. Eintrag: Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung, 23.11.2002
Ich wünschte, ich wäre heute niemals aufgestanden, dabei fing der Tag wirklich vielversprechend an. Ich habe diese Nacht kaum geschlafen, aber das bin ich gewohnt. Wenn ich wenig schlafe, dann vergesse ich manchmal meine Ängste. Ich vergesse sie, weil ich zu müde bin um sie in ihrer ganzen Intensität zu spüren. Schlaflosigkeit ist ein viel besseres Betäubungsmittel als Schlaf.
Ich verbrachte heute fast den ganzen Tag in meinem Bett und hörte meine Musik. „Fast den ganzen Tag“ ist für für mich schon etwas außergewöhnliches. Gegen Abend, als die Sonne langsam Berlin verließ, erinnerte ich mich an meinen ersten Tagebucheintrag und packte meinen Rucksack.
Ich weiß nicht wieso, aber alles fiel mir so leicht, ich sang unter der Dusche, ich sang während ich mich anzog und ich sang sogar noch, als ich diese schwarze Wohnungstür öffnete. Diese Wohnungstür, die ich manchmal tagelang anstarrte, ohne dass sie sich auch nur einen Millimeter bewegte, ging plötzlich durch eine einfache Handbewegung auf und zeigte mir die Außenwelt. Ich war wie verzaubert.
Als ich mein Zimmer verließ, bemerkte ich, dass mein Nebenmieter auszieht. Er ist ein Mann mittleren Alters und stand in seinem Wohnungseingang mit einem Paket in der Hand. Er schaute mich irritiert an. Ich erschrak, stoppte meinen Gesang, beachtete ihn nicht weiter und tat so, als wäre ich nur zu Besuch in der Wohnung gewesen. Mein Nebenmieter hatte bereits in diesem Haus gewohnt, noch bevor ich eingezogen war, aber ich glaube, er hat mich vor dieser Begegnung noch nie persönlich gesehen. Ich habe ihn schon häufiger beobachtet, schaute durch meinen Spion, während er das Treppenhaus putze und dabei auch meinen Bereich mitsäuberte. Ich habe ihm niemals dafür gedankt oder ein Wort mit ihm gewechselt. Das tut mir jetzt weh.
Ich ging nach draußen. Mein Herz schlug wild, ich spürte es bis in meinen Hals. Es war schon fast dunkel, das machte mir den Spaziergang leichter. Ich schlenderte ungefähr eine halbe Stunde durch ein paar menschenleere Seitenstraßen und atmete die frische, kalte Luft ein, ... mehr nicht ... nur atmen, das genügte mir heute.
Doch dann bog diese Gruppe von jungen Männern in die Straße. Ich senkte meinen Kopf, zog die Kapuze vor und wollte sie nicht ansehen, wollte sie nur so schnell wie möglich hinter mir lassen. Kurz vor mir flüsterte einer von ihnen seinem Partner ein paar Worte zu. Sie wurden langsamer und schauten mich an. Ich spürte ihre Blicke, Angst stieg in mir auf und ich beschleunigte mein Tempo. Als der Junge vor mir nicht zur Seite weichen wollte, ich aber auch nicht nach vorne sah, stieß ich mit ihm zusammen und prallte wieder zurück, während er, zwei Köpfe größer und bestimmt doppelt so schwer, sich überhaupt nicht rührte. ... Und dann überkam es mich. Eine innere Angst, ein Druck, der plötzlich unterträglich wurde. Ich wusste nicht was ich tun sollte, schwankte ein wenig. Ich sah trotzdem nich nach oben ... konnte es einfach nicht ... sondern fing an zu rennen. Es war eine Kurzschlussreaktion, ich wollte nur weg. Ich stieß mich seitwärts an ihm vorbei und lief die Straße entlang. Die ersten Tränen rannen meine Wangen hinunter, während einer der Jungen mir noch etwas hinterher rief. Ich verstand ihn nicht, ollte ihn auch gar nicht verstehen. ... weg, nur weg ...
Irgendwie, ich weiß nicht mehr wie, schaffte ich es wieder zurück in meine Wohnung. Ich verschloss die Tür von innen, meine Hände zitterten und ich fiel auf das Bett ... und weinte.
Was ist nur mit mir los? Das kann doch nicht mehr normal sein.