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kathis novembergeschichte

K

kathi

Guest
„ich bin wohl schon seit über 44 jahren zu lange auf dieser welt!“ sagte sie laut in richtung ihrer mutter, die sie vor 44 jahren zur welt gebracht hatte.
wieder konnte sie sich ihre klagenden und hadernden worte nicht verkneifen – nein, sie wollte sich diese auch nicht verkneifen.
verkneift hatte sie sich so vieles, so viele jahre lang, zu lang. jetzt war schluss damit. sie würde sich ihren mund nicht mehr verbieten lassen….auch wenn so manches unflätige wort dabei herauskam.
auch - und gerade – zu ihrer mutter!
wie oft hatte sie früher geschwiegen!
sich alles sagen, alles vorhalten lassen.
still ertragen. ohne mit der wimper zu zucken.
sich gedacht: „na ja, lass sie doch reden!“
NEIN, und nochmals NEIN!
sie würde nichts mehr herunterschlucken.
nicht ihren hass, nicht ihre trauer, nicht ihre wut.

beschwichtigend fügte sie nun allerdings hinzu: „ich passe wohl nicht auf diese welt! ich komme mit ihr nicht klar.“
sie wollte doch nicht, dass all ihr frust bei der fast 90-jährigen hängenblieb.
denn sie wusste genau, dass diese alte, kleine, gebeugte frau nichts dafür konnte, dass sie selbst sich so schwer tat mit ihrem leben? jene frau, die sie zwar nie wie ein kind behandeln konnte. und sich doch damals vor über 44 jahren nichts sehnlicher gewünscht hatte, als dieses kind zu bekommen.
 
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sie war dieses kind gewesen.
plötzlich fand sie sich auf dieser erde wieder. bei dieser frau. an einem novembertag.
es schneite nasse patzen vom himmel. doch sie blieben noch nicht liegen.
nach einigen tagen konnte sie mit ihrer mutter vom spital nach hause gehen.
erinnern kann sie sich daran nicht mehr. wie auch? wer weiß das schon?
doch die alte hatte es ihr erzählt. vor vielen jahren schon.
ein kaiserschnitt war sie gewesen. und alles war sehr schwierig.
sie wollte wohl nicht so bald auf diese welt geboren werden. raus aus der hülle in eine harte und kalte realität.
wie anders war es vorher gewesen.
komisch daran konnte sie sich schon erinnern. „wie gibt´s das denn?“, dachte sie.
„wahrscheinlich bin ich wirklich nicht ganz dicht im kopf – aber das ist ja eh nichts neues!“
 
nun räumte sie mutters essensreste weg und füllte ihr das glas mit apfelsaft frisch an.
„bitte vergiss nicht deine tabletten.“, erinnerte sie sie.
gehorsam wurde die anweisung befolgt und die tabletten, sechs an der zahl hinuntergeschluckt.
„nun ist sie es, die alles runterschlucken muss.“, dachte kathrin.
„doch wünschen tu ich´s ihr nicht. eigentlich tut sie mir leid. tauschen möchte ich nicht mit ihr.“
die alte frau sah auf und sah kathrin an.
„hat es dir geschmeckt?“
„ja. danke dir!“
DANKE!
„hast du das gehört? – sie sagt es wieder! danke.“

nicht zu glauben, vielleicht ändern sich die dinge und zeiten doch…..!
 
und wie sie sich ändern, die dinge und die zeiten! das wusste sie ja selbst ganz gut.
nichts bleibt stehen wie es ist.
nicht die mutter, nicht die welt und sie auch nicht.

wie viele veränderungen – innere und äußerliche – hatte kathrin schon durchlebt? hatte sich von einem grauen mauerblümchen, das ihr eigenes wort leiser hörte als ihr ängstlich pochendes herz, in eine wilde amazone verwandelt, die die männer unter den tisch soff und sich die nächte um die ohren schlug.
vormals brav, unscheinbar, still und dem familiensystem und somit ihrer mutter ergeben.
dann aus dieser häuslichen enge ausgebrochen - das enge brustgeschirr sprengend, das ihr jede eigene regung abgeschnitten hatte.
das war ihre erste befreiung gewesen. plötzlich und unerwartet intensiv.
nicht dass sie das vorgehabt hätte…oder sich ausmalen hätte können, wie ihr auszug aus dem elterlichen einfamilienhaus in die kleine stadtwohnung ihr leben verändern würde.
doch alles, einfach ALLES war schlagartig anders gewesen.
und nie mehr wollte sie nach hause zurück. zu dieser frau und ihrem engen korsett.
nicht zum wochenende, nicht zu weihnachten und schon gar nicht zum ominösen „mutter“tag.
NIE MEHR!
 
stattdessen offenbarte sich ihr damals eine gänzlich neue welt?
eine welt, in der sie sich als eigenständiger mensch mit einer eigenen meinung erleben durfte.
hier wurde diskutiert, neue sichtweisen und möglichkeiten erörtert.
sie hörte sich reden, in frage stellen, philosophieren. ihre stimme bekam einen klang, durfte tönen, durfte sich erheben (was sie anfangs noch ziemlich verwirrte).
nun wurde sie gehört und manchmal auch gefragt.
hier waren menschen. junge menschen. lebendige menschen. anders denkende menschen. frauen und - männer.
gespräche, verbindungen, küsse, umarmungen, liebschaften, one-night-stands.
beziehungen jeder art, und beziehungskrisen. politische leidenschaft, freiheit und wilde kunst.
alles war da.
und über alles wurde gesprochen.
eine welt, in der enge keinen platz hatte.
weder im räumlichen noch im geistigen noch im körperlichen sinn.
 
und das alles wollte ausgekostet werden.
sie selbst war mit einem schlag eine völlig andere frau gewesen.
ja, das war es: eine FRAU.
eine starke, immer mehr sich selbst bewusst werdende zwar, doch innerlich dennoch eine FRAU.
und zum frau-sein gehörten nun mal die männer.
mit männern hatte es mutter nicht gar so sehr.
jetzt fiel ihr wieder ein, wie sie vor grauer vorzeit die großmutter singen hörte:
„die männer sind alle verbrecher, ihr herz ist ein finsteres loch.“ dann war da noch eine zeile und zum schluß hieß es: „…aber lieb, aber lieb sind sie doch.“
nur dass mutter die männer niemals „lieb“ fand. auch den vater nicht.
ungezählt die vielen meinungsverschiedenheiten, die dauernden streitereien.
wegen kleinigkeiten.
aber so eine kleinigkeit war halt schnell da.

den papa hatte kathrin schon sehr gern gehabt.
er war ein sanfter, gutmütiger mensch gewesen.
lange hörte er seiner frau unwidersprochen zu, um dann zu beschwichtigen.
er gab ihr praktisch immer recht. um die – nicht vorhandene – harmonie nicht noch mehr zu gefährden,
schutz und halt hatten sie und ihre kleine schwester durch ihn nicht.
die unberechenbarkeit und die gräßlichen launen der mutter bildeten stets eine gefahr.
 
zuflucht gab´s nur zwischen den schwestern selbst…..und da war dann noch der hund.
den konnte man auch streicheln und kosen.
und lange mit ihm spazieren gehen….weg vom ort der dauernden spannungen.
es gab eine zeit, kathrin mag um die 16 gewesen sein, die schwester noch keine 13 Jahre, da gingen sie täglich stundenlang mit dem hund gassi. führten dabei schon recht „erwachsene gespräche“. erwachsen waren sie ja sowieso schon immer gewesen. jedenfalls nie „kind“-lich.
sie und ihre schwester hatten sich eigentlich sehr lieb.
ohne einander wäre es ganz unmöglich gewesen. „haha!“ dachte kathrin, „wie hänsel und gretel. nur dass ich wohl der hänsel war.“

das schlimme daran war nur, dass mutter diese entwicklung nicht gerne sah.
zwar war sie froh, ihre kinder „los“ zu sein und sich nicht um deren seelische abartigkeiten kümmern zu müssen.
doch die „böse“ wollte sie nun auch wieder nicht sein.
warum hatte sie denn überhaupt kinder gekriegt, wenn sie dann nichts von ihnen haben konnte. kinder zu erziehen sei ohnehin kein „honigschlecken“, hatte sie immer wieder betont.
so war es ihr ständiges bestreben die beiden auseinander zu bringen.
und dies gelang ihr auch bestens. indem sie kathrin gegen ihre schwester ausspielte und umgekehrt.
dann konnte sie auch lieb und nett zu einem der mädchen sein.
doch nur so lange wie die andere bestraft werden sollte….oder so lange, bis sich die „brave“ doch etwas zu schulden kommen lassen hatte. vielleicht deshalb, weil sie nicht mit mutter über die andere herziehen wollte…
 
nun war es zeit für mutters augen.
täglich um 8,16 und 20 uhr mussten sie eingetropft werden.
„lustig“, dachte kathrin, „vor mir und meinen bedürfnissen wollte sie die augen immer verschließen. jetzt muss ich ihr die augen öffnen und medizin reintun.“

mutter lag auf ihrem bett.
fast jeden nachmittag musste sie sich hinlegen. so müde war sie.
das leben zehrte schon lange an ihr.
„wie lange noch?“, überlegte kathrin.
mehr als 2 jahre gab sie ihr nicht mehr. so schnell war in den letzten monaten der verfall vorangeschritten.
jetzt lag sie da wie ein kind.
das kleine köpfchen auf die seite gelegt, die decke hochgezogen. reingekuschelt.
das bärchen, das sie sich vor einem jahr beim versand bestellt hatte, saß am bettrand.
sie hatte es für ihre enkeltochter gekauft. doch dann konnte sie sich nicht mehr davon trennen.
kathrin hatte sie darin bestärkt.
„lass es doch bei dir.“, meinte sie. „lisa hat ja genug kuscheltiere. aber du hast kein einziges.“
 
kurze zeit vorher war mutters hund gestorben. besser gesagt mutters hündin.
„hexi“ hatte sie geheißen. das hat gut zu ihr gepasst. sie war ein fox-ähnlicher mischling gewesen. innerlich sehr ängstlich, doch äußerlich bissig und keifend.
zu kathrin hatte sie jedoch von anfang an zutrauen.
das allerdings war kathrin gar nicht so recht.
wenn sie mutters zimmer betrat, wurde sie von hexi jedes mal überschwenglichst begrüßt.
das hieß: erfreutes bellen; versuche, an kathrin hochzuspringen; nicht von ihrer seite weichen; laufende aufforderungen, um von ihr gestreichelt oder liebkost zu werden.
und genau darin sah kathrin das problem.
nicht dass sie den hund nicht mochte. sei mochte ihn ja.
jedoch so, wie man einen hund mag. und nicht mehr.
diese laufenden freudensausdrücke waren ihr eine belastung. denn mutter registirierte sehr genau, wie sie auf das liebe hunderl reagierte.
jeder verweis auf den platz oder jedes abschütteln der schleckzunge löste in mutter eine wahre seelenqual aus.
so, als ob kathrin sie selbst zurückgewiesen hätte.

und kathrin wusste, dass dem auch so war.
denn diese hysterische, ängstliche hündin war quasi mutters ausgelagerter kindlicher anteil.
und genau das ging kathrin so auf die nerven.
der hund sollte das medium zum zeigen von emotionen sein. liebevolle emotionen, die mutter nicht selbst zeigen konnte.
 
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„stimmt nicht“, berichtigte sie sich.
so vieles war schon anders geworden, seit mutter da war. seit sie vor 4 jahren zu kathrin und ihrer familie gezogen war.
vor 7 jahren war der vater gestorben. er war über 90 jahre alt gewesen.
bis zuletzt hatte das alte ehepaar zusammen im gemeinsam erbauten haus gewohnt.
die ehe hatte 52 jahre gedauert. sie waren zusammen in freud und leid. in hader und gewohnheit. zusammengekittet, gekettet, einander ergeben.
EIN EINZIGES MAL hatte vater die nerven verloren. hatte im wilden affekt nicht mehr an sich halten können und die hand gegen sie erhoben. nach 30 jähriger ehe, dem beinahe ruin seiner firma und in seiner schwersten lebenskrise.
mutter bestand darauf, dass er sich bei ihr zu entschuldigen habe. er hat´s in seinen letzten lebensjahren getan – doch nicht mit worten. geredet wurde ja nie.
mutter hat an seinem grab geweint. ehrliche tränen.
kathrin wusste, dass sie ihm vergeben hatte.
sie wusste auch, dass sie ihn geliebt hatte.

naja, sie konnte es halt niemals wirklich zeigen.
erst am schluss. erst als er ins koma gefallen war. und dann beim begräbnis.
mutter hatte dem aus der kirche ausgetretenen ein begräbnis erster klasse mit allen christlichen ehren bestellt. sie wollte es ihm wirklich an nichts fehlen lassen.
etwas verspätet zwar…aber immerhin.
 
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