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Ich wünschte

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3. Januar 2012
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„Ich hab ja schon verstanden. Ich halte meinen Mund.“ Ich schaue aus dem Fenster. Es ist dunkel. Ich beobachte die Regentropfen, die wild durcheinander die Scheibe herunterperlen. Ich verfolge sie mit meinem Blick, immer wieder einen neuen Tropfen. Ich schließe die Augen. Es ist so sinnlos, aber ich hoffe dadurch die Tränen aufhalten zu können. Ich fühle mich schrecklich einsam. Neben mir am Steuer sitzt Eric, mein bester Freund. Obwohl er nur ein paar Zentimeter neben mir sitz, bin ich ihm so unendlich fern.

Die Stille im Auto erdrückt mich. Denn eigentlich hat Schweigen zwichen uns keinen Platz. Bevor ich Eric kennenlernte, wusste ich nicht was es heißt zu vertrauen. Natürlich vertraute ich meinen Eltern und Freunden. Aber mit ihm war es von Anfang an anders, seit er vor einem Jahr in meine Klasse kam. Wir waren keine Kindergartenfreunde, und doch schien es mir so als würden wir uns unser Leben lang kennen. Bei ihm konnte ich sein , wie ich bin. Wie erzählten uns alles, ohne je darüber nachgedacht zu haben. Viele hielten uns für ein Paar, doch zwischen uns war mehr als eine flüchtige Romanze, es war mehr als eine Freundschaft. Es war, als wären wir unser Leben lang auf der Suche gewesen, ohne zu wissen wonach. Und als wir uns fanden, merkten wir, was uns all die Zeit gefehlt hat. Erst als ich Eric traf, fühlte ich mich komplett. Es war, als gäbe er mir ein Teil von mir zurück, das mir lange zuvor genommen wurde.

Doch da war noch etwas. Etwas das mir Sorgen machte, und mich verzweifeln lies.

Alles war gut, außer wenn ich ihn nach seiner Vergangenheit fragte. Dann antwortete er mir in einem aggresiven, eiskalten Ton, der mich erschaudern ließ. Sein Gesichtsausdruck wurde steinhard und sein Körper begann sich zu verkrampfen. Es kam mir vor als würde ich jede Zelle seines Körpers erstarren sehen, und doch wusste ich nicht was es bedeutet. Auf einmal stand da nicht mehr der Eric, den ich kannte, sondern ein fremder Mann.

Ich habe verloren, die erste Träne läuft kalt meinen Hals herunter. „Es tut mir Leid. Ich weiß du magst nicht reden , aber...“ Meine Stimme bricht ab. So oft haben wir darüber gesprochen. Und jedes mal blieben mehr Fragezeichen in meinem Kopf zurück. Es macht mich unendlich wütend, dass er nicht mit mir redet. Ich habe das Gefühl er will mich damit verletzt, ärgern , für irgendetwas bestrafen, dass ich falsch gemacht hat. Es tut mir weh. Von einem Moment zum nächsten, scheint er so unendlich weit weg. Ich kann nicht verstehen warum er sich mir nicht anvertraut, wie er es sonst immer macht.

Ich blicke fragend zu ihm, doch er reagiert nicht. Er starrt starr gerade aus.Ich kann jeden Muskel in seinem Arm erkennen. Ich sehe jede Pore in seine Gesicht. So gerne würde ich wissen was in ihm vorgeht. Ich schaue wieder aus dem Fenster, meine Gedanken kreisen. Ich will ihn schütteln , anschreien und in die Augen schauen ohne, dass er dem Blick ausweicht.

Er fährt immer schneller und spüre,dass sein Blick auf mich gerichtet ist. Ich blicke zu ihm. Da ist er wieder, der Eric den ich kenne. Aber der Blick trifft mich, wie ein Schlag,etwas stimmt nicht. Ich halte die Luft an, ich merke irgendwas ist gerade laut krachend in ihm zerbrochen. Es scheint, als würden seine Augen um Hilfe schreien.

Er schaut wieder auf die Straße, doch er wird immer schneller. Seine Hand beginnt zu zittern.

„Ich wünschte ich könnte die Zeit zurückdrehen“ . Nie hatte ich ihn so erlebt. Seine Stimme klingt unkontrolliert, zitternd, voller Angst. Als würde sein Leben an diesen Worten hängen. Als hätten sie ewig darauf gewartet ausgesprochen zu werden. Ich nehme seine Hand. Es ist das einzige was ich tun kann. In meinem Kopf entsteht ein stechender Schmerz, so viele Fragen schwirren darin herum. Doch da ist noch etwas anderes. Zuerst merke ich es kaum , aber dann wird das Gefühl immer stärker, bis ich es nicht mehr ignorieren kann. Ich fühle mich erleichtert. Wahnsinnig erleichter. Es scheint als fallen mir Tonnen an Gewicht von den Schultern. Es waren nur ein paar Worte , aber ich hatte das sichere Gefühl , jetzt würde alles einfacher.

Seine Gesichtszüge entspannen sich, auch er ist erleichtert. Ich drücke seine Hand fester, sie zittert . Wir verstanden uns, ohne auch nur einen Ton zu sagen. Das war schon immer so. Ich spüre wieder die Geborgenheit, die ich immer fühle, wenn Eric bei mir war.

Ich schließe kurz meine Augen, ich bin wahnsinnig müde. Und doch bin ich glücklich. Es war ein Anfang. Es waren nur ein paar Worte, ich konnte nicht schlau daraus werden. Es klang fast wie eine Floskel. Und doch was es ein Schritt, auf den ich so lange warten musste und an den ich kaum noch geglaubt hatte.

Auf einmal löst Eric ruckartig seine Hand aus meiner. Ich erschrecke mich und reiße die Augen auf. Ich schaue zu Eric, seine Augen sind weit aufgerissen und voller Angst. Schon spüre ich wie das Auto ins schleudern gerät. Ich schaue auf die Straße , alles geschiet in Zeitlupe. Dort steht ein Reh, ein einsames, erschrockenes Reh, mitten auf der Straße. Die Zeit vergeht so unglaublich langsam, dass ich das Gefühl habe, dass ich das Reh seit Stunden anstarre. Ich kenne jedes Haar in seinem Gesicht, ja ich bilde mir sogar ein seine Gedanken lesen zu können. Auf einmal herrscht Stille. Doch dann kommt die Zeit zurück. Das Reh verschwindet aus meinem Blickfeld, das Auto gerät auf die Gegenfahrbahn, mein Körper wird herumgeschleudert und alles wird schwarz, pechschwarz.

Ich suche nach Erics Hand, doch ich kann sie nicht mehr finden.



Ich spüre mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Es erschüttert mich. Es reist mich aus dem schrecklichen Tagtraum, den ich seit dem Unfall so oft habe. Meine Augen sind schrecklich trocken. Habe ich überhaupt geblinzelt, seit mich die Gedanken wieder überfallen haben? Das Handy hört nicht auf zu vibrieren, doch ich bin unfähig mich zu bewegen. Wie oft wird das noch passieren? Ich fühle mich schrecklich erschöpft. Mein Herz hört nicht auf zu rasen. Das Handy gibt endlich Ruhe.Stille. Ich versuche mich zu erinnern, wie man atmet. Ich habe schreckliche Angst. Ich spüre die Schmerzen von damals.Mein Verstand kehrt langsam zurück , doch ich habe das Gefühl, dass immer etwas bei Eric zurückbleibt, wenn ich aus den Erinnerungen aufwache. Etwas ,das unwiderruflich verloren ist.

Ich fühle mich unendlich leer. Ein Teil von mir starb mit Eric, in dieser kalten Winternacht. Mitlerweile ist es August und das Frieren nimmt kein Ende.

Meine Erstarrung löst sich langsam. Ich recke mich leicht, und schon fühle ich mich wieder erschöpft, erdrückt von den Gefühlen.Ich sinke zurück in meinen Stuhl. Mein Handy vibriert erneut. Es liegt mitlerweile auf dem Schreibtisch vor mir. Es ist auf „lautlos“. Und trotzdem schallt das Geräusch in meinen Ohren. Ich will das Handy gegen die Wand werfen. Ich will, dass Eric wiederkommt. Ich will schreien, heulen, zusammenbrechen. Doch ich bleibe stumm. Ich schaue auf das Handy. Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Ich sehe das blinkende Bild von Jessy und mir. Ich habe mein Arm um ihre Schultern gelegt, ich musste mich abstützen. Das Bild wurde bei der Poolparty von Lena, einer Freundin von uns, gemacht. Es sollte die Party des Jahres werden. Eric wollte mit mir hingehen. Mein Arm sollte um seinen Schultern liegen. Ich sehe so glücklich aus auf dem Bild. Es wurde ein viertel Jahr nach seinem Tod aufgenommen, damals konnte ich nur mit Hilfe von Krücken gehen, trotzdem bin ich hingegange. Ich spüre , wie mir schlecht wird. Wie konnte ich ohne ihn hingehen? Ich habe mich betrunken. Ich erinnere mich kaum. Wie habe ich es geschafft so echt zu lächeln?

Ich erinnere mich nicht wie man lacht. Ich habe wieder gelernt, wie man die Mundwinkel nach oben ziehen muss, dass es echt aussieht. Es wird erwartet, dass ich lächle. Aber wie es sich anfühlt, habe ich vergessen.

Ich will nicht mit ihr sprechen. Es widersteht mir. Ich will alleine sein und verschwinden, es ist so kalt geworden in meinem Leben, seit Eric nicht mehr da ist. Jessy ist seit dem Unfall meine größte Stütze. Sie war immer da, wenn ich sie gebraucht habe. Aber ich hasse Sie, weil sie den Platz von ihm eingenommen hat. Ich hasse sie, weil sie manchmal wieder Licht in mein Leben bringt. Ich hasse sie, weil sie mir wieder zu einem Leben verhelfen will, obwohl ich doch einfach nur bei Eric sein möchte. Ich hasse sie so sehr, weil ich spüre, dass sie mich liebt, wie es Eric getan hat.

Ich drücke auf den grünen Höhrer.

„Hallo?“ , ich erschrecke mich über meine dünne Stimme und räuspere mich kurz.
„Hey, ich bins Jessy. Du glaubst garnicht was mir heute passiert ist. Ich habe den Typ aus dem Kaffee getroffen. Du weißt schon , der Süße ausm (CO) Fee. Der war in der gleichen S-Bahn wie ich. Und wir haben auch die ganze Zeit augenkontakt gehalten usw. Und dann habe ich auch noch die Jeans die ich schon so lange wollte endlich gefunden. Und dann auch noch 10 Euro billiger ! “

Es herrscht kurz Stille. Es ist eine absurde Situation. Meine Gedanken und ihre. Wieder fühle ich mich unendlich alleine. Ihre Freude ist nicht echt, vielleicht lügt sie sogar. Aber sie will mich ablenken. Sie will zeigen, dass es ein Leben auserhalb meines Zimmer gibt. Aus dem ich kaum noch rauskomme und bei dem die Vorhänge fast immer zugezogen sind. Ich weiß ich könnte mich ihr anvertrauen. Sie würde mir zuhören, vorbeikommen, da sein. Aber sie würde es nicht verstehen. Sie würde trösten. Aber sie würde nicht das gleiche fühlen. Also antworte ich , wie ich es immer tue.
„Oh das ist ja toll.“

„Ist alles ok bei dir?“

„Jaja klar, ich bin nur ein bisschen müde.“

„Ah ja ok. Ich musste gestern auch noch lange Hausaufgaben machen. Echt schlimm wieviel wir zu Zeit aufbekommmen !“

„Mh ja ...“

„Du, hättest du Lust morgen mit mir ins Kino zu gehen? Du weißt schon in das neue in der Altstadt. Da solls echt cool sein. Etwas klein. Aber dafür umso gemütlicher.“

„Mal schauen.“

Wieder Stille. Ich spüre, dass ich etwas sagen sollte. Aber da ist diese Wut. Darüber, dass mich Eric im Stich gelassen hat, dass wir im Streit auseinander gerissen wurden, dass ich am Leben bin und er nicht, dass ich seine Hand nicht widerfinden konnte.

Ich will nicht über Kino nachdenken. Ich will wissen wie ich überleben soll. Wie ich das aushalten soll, ohne verrückt zu werden. Alles erinnert mich an ihn.

„Hör mal, wenn du reden willst, über den Unfall oder so... ich bin immer da.“ Jessy klingt besorgt und hilflos. Ich habe nie überlegt wie es ihr in all den Monaten erging. Ich habe sie immer abgewimmelt, bin ohne Bescheid zu geben, zu Treffen nicht erschienen, habe ihr nie gezeigt was sie für mich bedeutet.

„Ich hab doch gesagt ich bin einfach nur müde!“ . Meine Stimme klingt patzig , beleidigt, zickig, aggresiv. Wie sie es immer tut, wenn Jessy oder irgendjemand sonst Eric oder den Unfall anspricht. Ich kann nichts dagegen tun. Ich muss meine ganze Kraft aufbringen, diesen Satz zu sagen. Ich weiß, dass mir Jessy nicht glaubt. Aber es ist wahr. Ich bin einfach nur müde. Und schon wieder spüre ich Angst in mir aufsteigen. Ich habe schreckliche Angst. Ich habe Angst, die Kontrolle über meine Gefühle gänzlich verlieren, wenn ich mehr von mir erzähle. Von meinen Gefühlen und Gedanken, die mich seit jener Nacht verfolgen. Worte sind nicht genug, um das beschreiben zu können, was seither in mir vorgeht. Ich vermisse Eric so sehr, dass mir alles wegtut, wenn ich an ihn denke, an uns, an das was uns verband. Aber ich will nicht, dass das aufhört, ich halte an den Schmerzen fest.Sie halten mich am Leben, sie zeigen, dass Eric noch da ist, wenn auch nur in meiner Trauer.

„Mmh ok“. Meine Wut steigt. Ich höre in ihrer Stimme, dass sie mir nicht glaubt. Sie erwartet, dass ich weiter rede. Ihr mein Herz ausschütte. Doch ich kann das nicht. Meine Lippen bleiben zusammengepresst. Etwas in mir, würde nichts lieber als „Ich vermisse ihn so schrecklich“ in das Telefon schreien. Doch das Schweigen hält an. Ich blicke auf, sehe in den Spiegel und erkenne mich kaum. Ich sehe nicht mich, sondern Eric. Nicht der normale Eric, sondern der Eric den ich nie ergründen konnte, auf den ich wütend war. Ich sehe meinen leeren Blick, meine kalten Augen.

Auf einmal wird mir auf einen Schlag bewusst, wie sich Eric gefühlt hat, wenn ich ihn nach Vegangenem fragte. Was ich in ihn ausgelöst habe, mit meiner Ungeduld, dem beleidigt sein , der Heulerei. Was für eine Anstrengung muss es gewesen sein die Worte auszusprechen?

„Ich wünschte , ich könnte die Zeit zurückdrehen.“

Ich weiß nicht, was er erlebte, in seiner Vergangenheit. Aber nun wusste ich , was ich mich so lange gefragt habe, wie sich Eric fühlte, wenn sein Blick haltlos wurde, wenn ich ihn nicht wiedererkannte. Wenn er in Erinnerungen versank und nicht mehr heraus fand.

Wie er sich fühlte in dieser Nacht .

In der letzten Nacht.

In der Nacht, die alles änderte.

Ich erinnere mich, wie ich unter seinem Schweigen litt, unter seiner Kälten. Welche Schmerzen und Schuldgfühle ich hatte, weil ich dachte, ich wäre nicht genug, sein Vertrauen in mich nicht groß genug. Ich hätte versagt. Ich wünschte mir nur ein paar Worte. Und mit dem einen Satz, hatte er alles geändert.


„Jessy ?“ Meine Stimme ist kaum hörbar.

„Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen.“



Fortsetzung :

http://tiefblick.jimdo.com/gedankenergüsse/ich-wünschte/
 
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